Denn die Menschen haben einen
unglücklichen Hang, sich selber,
ihren Anblick, ihre Werke zum
Maßstab der Vollkommenheit aller
möglichen Dinge zu machen.
Edmund Burke
Vermessene Formen und der Mensch
Überlegungen zur Aktualität geometristischen Formwillens
1992 ist einer künstlerisch innerbildlichen Befragung geometrischer Formen keine Aktualität mehr zuzubilligen.
Das Dreieck im Bilde ist genauso unserer Anschauung bereits überantwortet worden wie das Bild als Dreieck,
das gemalte Polygon genauso wie das bildkörperhaft ausgegrenzte ‚shaped canvas’. Das formal innovative Poten-
tial scheint aufgebraucht. Ein bloßes Elementarisieren von ehedem in komplex litera-rischen, szenischen und
motivischen Geflechten eingebundenen Formen leistete als bildliche Strategie die historische Moderne, das
Isolieren dieser Formwerte wurde zur Methode der Konkreten Kunst, die sich programmatisch von der abstrakten
dadurch unterscheidet, daß sie jedweden außerbildlichen Formbezug ausschließt. Doch bedeutet dieser formale
Radikalismus der Konkreten Kunst keineswegs, daß jeglicher außerbildliche Bezug verunmöglicht wurde. Denn
als die Konkrete Kunst ihre zugespitzt theoretische Manifestation erfuhr – im Jahre 1930 durch Theo van Does-
burg, Otto Gustaf Carlsund, Jean Hélion, Marcel Wantz und Léon Tutundjian in der ersten und einzigen Nummer
der Zeitschrift „AC“ (Art Concret) in Paris – gab es genauso die künstlertheoretische Absicht, diese durch Frei-
stellung neu gewonnene Formenwelt auch als Formensprache zu begreifen, die sehr wohl darauf ausgerichtet
sein kann, nicht nur Formen als Formen, sondern auch Formen als Träger von Gehalten zur Anschauung zu bringen.
Hierin, in dem befragenden Zur-Anschauung-Bringen und in dem sich vergewissernden Wirkung-Erspüren ihrer
Form wie farbigen Erscheinung und ihren Wechselwirkungen liegt die bis heute nicht an Aktualität eingebüßt
habende Bedeutung der Kunst, die sich „nur“ auf ihre eigenen, nicht selten geometrisch erscheinenden Mittel
zu verlassen scheint.
Das Geometrische als affektive Form für Gehalte
Beispielhaft, eine inhaltliche Absicht belegend sei eine historische Textstelle von Carl Buchheister angeführt,
die ein Rückblicken aus dem Jahre 1931 auf ein von ihm schon 1925 gemaltes Bild dokumentiert. „Ich wollte
Gefühle malen, Schmerz, Freude, Lebensbejahung usw. Dann wollte ich Begriffe malen.“ (1) Das Bild, das
Buchheister dem ungarischen Künstler Ernst Kállai mit diesen Sätzen nahebringt, ist das „Opus 25a (Sommer-
bild)“, das in einem bräunlich-gelben Untergrund weiße, rote und blaue Flächen nahezu Hans Arpscher
Formungen zeigt — also rein konkrete Farb-Bild-Formen.
Nichts Attributives verweist in diesem Bilde auf Sommer — kein Sonnenstrahl, kein kurzer Schatten, kein klarer
Himmel. Nur Formen und Farben stehen dem Betrachter vor. Rein an das affektive Vermögen des Menschen
wendet es sich somit: an die Fähigkeit, Stimmungen sensibel zu erspüren.
Betrachten wir die Begriffe, die Buchheister zur Anschauung bringen wollte, suchen wir somit sein Zur-
Anschauung-bringendes-Interesse aufzufinden, so stellen wir fest, daß uns sowohl für Sommer wie auch
für Schmerz, Freude und Lebensbejahung eine konkrete Anschaulichkeit fehlt, daß es folglich Buchheister
darum ging, Verhalten ein Gesicht zu geben, die sich selbst nicht dem Auge zeigen. Denn wir verfügen nicht
über ein Bild für die begrifflichen Abstrakta wie Schmerz, Freude, Lebensbejahung oder Sommer. Stattdessen
kennen wir nur die physischen, psychischen oder affektiven Reaktionen auf ihre Phänomenalitäten, auf ihre
Erscheinungen.
Historisch bedeutete dies, daß man sich eben attributiver, szenischer, symbolischer oder allegorischer Hilfen
bediente, um dem Faktischen, gleichwohl aber Unsicht-baren ein Bild zu geben. Aktuell bedeutet es beispielsweise,
daß man die modernis-tisch kämpferische Frage nach Gegenständlichkeit oder Ungegenständlichkeit als gültige
Kunst zu den Akten legen kann: es gibt Zur-Anschauung-bringen-wollende-Themen, die sich einer konkreten
Bildlichkeit entziehen, und solche, die sich einer abstrakt-darstellenden Weise verweigern. Soll zum Beispiel
eine Aussage über ein außerbildliches Konkretum, einen armen Bettler etwa, um einen Musterfall Theo van
Doesburgs aufzugreifen (2), Bild werden, verweigert sich die konkrete, nur auf reine Bildelemente sich
beschränkende Darstellungsweise. Denn dem armen Bettler ist nur gerecht zu werden, verliert man den
Menschen in ihm und seine Erscheinung nicht aus dem Auge. Soll hingegen das außerbildliche Abstraktum
Armut in Bildform zur Wirkung kommen, so erweist sich die Konkrete Kunst als die Form, da sie sich
allein an das psychologisch sensualistische Wahrnehmungsvermögen des Betrachters wendet.
Zusammengefaßt: Ginge es darum, die unanschaulich seiende Armut ins Bild eines armen Bettlers zu kleiden,
so würde das Menschenbild mißbraucht — ginge es darum, den armen Bettler in eine konkrete Bildform zu
pferchen, ebenfalls. Das Menschenbild ist folglich so wenig aus der Kunst zu bannen wie die Konkrete Kunst
mit ihren selbstgenügsam scheinenden Form-Farbigkeiten an Akutalität verliert. (3)
Buchheister reflektiert diesen Verhalt schon sehr früh. Seine Bilder sind nicht abhängig von Szenen oder Er-
zählungen, sie verlassen sich stattdessen nur auf Formen und Farben: eben auf Form-Farbigkeiten. Sie zeigen
uns, daß neben der gleichsam analytischen Absicht einer Elementarisierung es also auch schon in der Frühzeit
geometrisiert spröder Kunst das künstlerische Anliegen gab, über Form- und Farbgestimmtheiten, den Menschen
als Betrachter affektiv zu treffen, um ihm Bilder aus dem Bereich des Unbildlichen zu geben.
Edmund Burkes frühes Bewusstsein für das Affektive
In seiner im Jahre 1757 erschienenen Schrift „Vom Erhabenen und Schönen“ betrachtet Edmund Burke bereits
dieses Spannungsverhältnis von formaler Geometrie, gesetzter sowie kanonisierter Norm und Wirkung auf
den Menschen, das die Konkrete Kunst wie keine andere zu ihrem Thema erhebt. Denn nur die rechte Form
in rechter Größe, rechter Farbe und rechtem Umfeld vermag Gefühle so auszudrücken, daß sie nicht nur ins
Bild hineingegeben sind, sondern auch aus dem Bilde heraus-gelesen werden können.
Im weiteren kommt Burke zu dem Schluß, daß es eben nicht die Vermessungen des menschlichen Körpers
und die daraus hergeleiteten ideal vermessenen (welch‘ offenbarender Zweiklang des Wortes!) Anthropometri-
sierungen oder gar Zahlenmetrisierungen sind, die Schönheit empfinden lassen, sondern daß es das erfühlte
Maß ist, das Schönes oder auch Erhabenes zu erleben gibt.
Maß, Notwendigkeit der Architektur
Von fundamentaler, erkenntnisleitender Bedeutung erweist sich dieses Denken mit Blick auf zwei Architekturen,
die im folgenden näher betrachtet werden sollen: Das Wiener „Haus Wittgenstein“ (1926-28) und das Krefelder
„Haus Lange“ von Mies van der Rohe (1928). Denn so, wie es in der bildenden Kunst die gleichsam ideolo-
gische Elementarisierung (beispielsweise die späten Bilder Theo van Doesburgs) und die schon durch menschliche
Anliegen rückgebundene Denkungsart (eben Bilder Carl Buchheisters) gab, so verhält es sich auch in der Architektur.
Das von Hermine Wittgenstein formulierte Diktum von der „hausgewordenen Logik“, das sich durch die gesamte
Literatur zum vom Adolf Loos-Schüler Paul Engelman unter radikal purifizierender (4) Mitarbeit Ludwig Wittgen-
steins, gebaute Wiener Haus zieht, benennt das Gefühl, daß den Besucher des Hauses überkommt: Kälte. Doch
diskreditiert das Diktum die Logik, „hausgewordene Ideologie“ wäre richtiger. Keine Fußleiste gibt den Wänden
Stand, nichts vermittelt oder überleitet vom Boden zur senkrechten Fläche. In 154 Zentimeter Höhe befinden sich
die Türgriffe. Die Türen selbst sind schartenartig hohe Lichtschleusen dann, wenn sie sich nach außen öffnen, und
dunkle Lichtverließe, wenn sie Räume trennen. Das Auge irrt haltlos in Schluchten. Der rechte Winkel ist omnipräsent,
das Ornament selbst-verständlich eliminiert, Symmetrie, Achsen, strenge Geometrie und Zahlenspiele wie 4:2, 4:1,
3:1 oder 2:1 (5) beherrschen das Gebäude, indem alles künstlich, ja anti-natürlich ist. Nur Kuben sind zu betreten.
Das Gefühl, in einem geometristischen Ganzen isoliert und durch es irritiert dazustehen, dominiert, Wohlbefinden
scheint ausgeschlossen.
Betritt man demhingegen das von Mies van der Rohe entworfene „Haus Lange“, so stimmt schon die Ziegelbau-
weise wohler: Maß wird sicht- und nachvollziehbar – das des Ziegels. Dem Auge wird Halt gegeben. Naturstein
begegnet, aus kleinteilig parkettiertem Holz ist der Boden und aus Holz auch der fußleisterne Sockel der Wände.
In die hölzernen Türrahmen mißt sich der Mensch und die vier Ecken mit Füßen und ausgestreckten Armen
ertastend — ein. Das Maß korrespondiert also mit dem Menschen, was aber nicht bedeutet, daß es ihm genom-
men ist: Die Breite der Türen entspricht nur in etwa der menschlichen Breite mit angewinkelten Ellbogen. Ein Sich-
Orientieren-Können scheint beabsichtigt — das wie auch im Wittgensteinschen Haus allpräsente System des
rechten Winkels ermöglicht es hier hingegen dienend.
Werden Martin Heideggers Gedanken über das Bauen und Wohnen erinnert (6) und wird seine Prämisse angenom-
men, derzufolge das Bauen das Wohnen zum Ziele habe, was er schon ethymologisch durch die Herleitung des
Wortes bauen, „guan“, belegt (wohnen bedeutete übrigens auch „bin“), so kann der formideologisierenden Bauart
Wittgensteins nur kritisch und muß der den Menschen eindenkenden archi-tektonischen Weise Mies van der
Rohes weitaus offener begegnet werden. Denn Wittgenstein baute Raume um der Räume willen, Mies van der
Rohe hingegen Räume für den Menschen.
Kunstform — Formmaß
Betrachtet man allerdings die beiden Gebäude unter skulpturalen Gesichtspunkten, so vermag sich die Schätzung
sehr wohl umzukehren. Das Spannungsverhältnis von Architektur und Skulptur, von dem Menschen zu dienender
und von jeglicher Dienstbarkeit befreiter Kunst, tut sich auf. Michael Heizers „Complex One/City“ aus dem Jahre
1972-76, das in der Wüste Nevadas dem Betrachter übermächtig ob seinen geometrischen Scharfkantigkeit vor-
tritt oder die Ed-io-anche-son-architetto-Skulpturen von Gerhard Merz geben zu erfahren, daß sie zum Glück nicht
zu bewohnen, ja, vor allem im Falle von Gerhard Merz‘ formgewordenen Ideen, daß sie nur in dem freien Bereich
der Kunst anzutreffen sind. Denn ihr synthetisches, totalitär menschenverachtendes Maß, daß auch in der
Architektur zur Übersteigerung einer auf Unterdrückung, auf Erniedrigung des Menschen zielende Wirkung hin
Anwendung findet, hat — wenn überhaupt — nur in der Kunst Platz. Nur in der Kunst, im Dialog von Werk und
Betrachter, ist der wahrnehmende Mensch allein gefordert, sich den Erfahrungsangeboten zu überantworten oder
nicht. Hier ist, auch eingedenk fundamentaler Verwerfungen, zu denken und zu formen, was zu wirken vermag.
Was die Kunst selbstverständlich aber nicht entledigt, diesen Aspekt dahingehend zu bedenken, daß gerade sie
der Idee vom Maß Form zu geben vermag — also nicht nur darstellt, sondern auch den Weg weist.
In diesem Geflecht von historisch und auch ethisch mit zudenkenden Bezügen siedelt die Arbeit von Mischa Kuball.
Seine geometrischen Formen, seine Drei-, Vier- und Vielecke, seine Kreise und zu Stegen verdichteten Rechtecke,
die er per Dia-Projektor auf Wände, Stühle und Schrankflächen, auf Häuser und Fassaden leuchtet, sind nicht
mehr nur Formen als Formen, sondern auch Behältnisse einer Haltung zu ihnen. Sie existieren nur noch als Form,
nicht mehr aber in fixierter bildlicher Materialität — sie existieren als vom Beleuchteten gefüllte Formen, also als
offene. Sie können demzufolge überall zum Aufscheinen gelangen, bestimmen aber nicht mehr unwiderruflich das
Aussehen des beleuchteten Gegenstandes. Sie sind potentiell riesig groß, auch aber verschwindend klein. Ihr Maß
ist nicht ermessen, auch nicht am Menschen — wohl aber menschlich erfühlt. Sie sind gefüllt mit Ansichten und
überlagern somit das Beleuchtete, was er wirkt, daß sie ihre geome-trische Form auch verunklären. So wenden
sie sich an den Menschen: unvermessen und affektiv, klar, pur und betörend, fest umrissen, aber licht.
Zwischen Rettung und Ironie geometrischen Ideengutes scheint mir Kuballs künst-lerisches Tun situiert. Er
aktualisiert es, indem er uns die ästhetische Gültigkeit vorprojiziert, und er ironisiert es zum Beispiel, wenn er
einen Tapeziertisch aus dem „Bauhaus“ als rechteckigen Bildwert vor das Glasfenster des Dessauer „bau-hauses“
montiert.
ANMERKUNGEN
(1) Carl Buchheister, in: C. B. (1890—1964), Ausgewählte Schriften und Briefe; hrsg. Von Charles Rump, Hildesheim, 1980, S. 90.
(2) Theo van Doesburg, Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst (bauhaus buch 6).
(3) siehe zu dieser Frage auch: Raimund Stecker, Kunst ist die geistige Umwertung der Materie, in: das kunstwerk, 4 XLIII 1990, S.3ff.
(4) Otto Kapfinger, Kein Haus der Moderne, in: Wittgenstein — Biographie — Philosophie — Praxis; Katalog zur Ausstellung der Wiener Secession 1989, S. 220
(5) Bernhard Leitner, Das Haus in Bewegung, in: Wittgenstein, Biographie — Philosophie — Praxis, a.a.O., S.170
(6) Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: Mensch und Raum — Das Darmstädter Gespräch 1951; hrsg. von Ulrich Conrads und Peter Neitzke in der Reihe Bauwelt Fundamente, Bd. 94; Braunschweig, 1991, S. 88ff.
In: Mischa Kuball: Bauhaus-Block, ed.: Lutz Schöbe, in order of Bauhaus Dessau Edition Crantz, Stuttgart 1992, p. 94-100.
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