MISCHA KUBALL: ZWEI ABENDRÄUME FÜR KÖLN (2006)
Zwei romanische Kirchtürme steckten ursprünglich das Konzept ob: der von Sankt Peter zu Köln und der von Sankt Mauritius zu Büderich. Letzterer hatte im 19. Jahrhundert sein Schiff durch einen Brand verloren, ersterer weithin durch den Krieg. Die beiden Türme aber blieben stehen und gemahnen seither die Nachwelt, die Brüche und Vergehen der Vergangenheit nicht zu verdrängen. Der eine mit seinem fragmentarisch wieder aufgebauten Kirchenschiff, der andere als Mohn mal, wie es Joseph Beuys beeindruckend gestaltet hat. Äußere Umstände erwirkten später die Konzentration auf Köln.
Die zweitälteste Kölner Pfarrkirche Sankt Peter, gegründet 1140, bildet von Anfang an eine lebendige Einheit mit der benachbarten Stiftskirche Sankt Caecilien. Beide Gotteshäuser liegen, geostet und parallel nebeneinander, nur durch die Distanz eines weiteren, imaginären Kirchenschiff voneinander getrennt mitten in der Stadt. Doch unterschiedlich der jeweilige Eigencharakter: Stiftskirche und Pfarrkirche, Romanik und Spätgotik, Museum und Gemeinde.
Die beiden Kirchen hatten hinter sich ein Kloster und eine Gemeinde. Die Äbtissin bestellte Jahrhunderte lang abwechselnd mit dem Kirchenvorstand in komplizierten Verfahren die Pfarrer — bis unter Napoleon der Bischof die Oberhoheit über die Gemeinden gewann. Alles war nicht ohne Konflikte, aber auch in einer befruchtenden Nähe und Synergie. Vierzehn Tage und Nächte erinnerten darum zwei permanent blinkende Leuchten über den alten Portalen diese Spannung und visualisierten so die lebendige Verbindung - als eine Mahnung an die Zukunft, das Verbindende beider Kirchen nicht zu einem wilden Parkplatz verkommen zu lassen.
Heute beherbergt Sankt Caecilien das Städtische Museum Schnütgen für mittelalterliche und kirchliche Kunst; aus den Trümmern des alten Sankt Peter entstanden nach dem Krieg die Stadtkirche der Kölner Jesuiten. Unter dem legendären ersten Pfarrer, P. Aloys Schuh S.J., war diese Kirche lange Jahre ein Zufluchtsort für viele suchende Christen; seit zwanzig Jahren ist sie jetzt eine Kunst-Station, d.h. ein Zentrum für zeitgenössische Kunst und Musik und ein Hort für viele Kinder und ihre Eltern und Großeltern. Die beiden ursprünglichen Orgelwerke sind unter dem Komponisten und Musiker Peter Bares zu einem reichen und experimentierfreudigen Instrument ausgebaut worden. Die Empore zeigt in ununterbrochener Folge Ausstellungen aus der internationalen Kunstszene und das Kirchenschiff — radikal leer geräumt, zeigt sich in rhythmischer Folge gut bestuhlt und lebendig besetzt.
Bereits vor zwölf Jahren installierte der Düsseldorfer Künstler Mischa Kuball eine Lichtinstallation von außen an die Kirche. Auf einem Gerüst montiert, strahlten elf große und starke Scheinwerfer ihr Licht durch die Kirchenfenster in das Innere der Kirche hinein. Dabei warfen sie sozusagen die mittelalterlichen Glasfenster samt Farbe und Motiv zu Boden. Dabei ging es ihm aber nicht um irgendwelche physikalischen Lichtreflexe, sondern vielmehr um einen Dialog mit dem Licht. Es ging ihm um das Licht, das als Medium draußen erkennbar und von den Fenstern gefiltert, in Poesie und Farbklang in Atmosphäre und lebenden Raum umschlug.
Der Betrachter wurde dabei zwangsläufig in den Dialog gezogen. Vorsprachlich, wie diese Begegnung verlief, eröffnete sich ihm eine Art sphärischer Ebene, worauf sich dann nach und nach die Worte des Verstehens und Fragens legten. Kuballs Projektion/Reflektion (1995) zeigte sich im Sinne des Titels als eine Art Skriptur, bei der sich etwas Chaotisches ausdrückte, sich zugleich aber auch als gebändigt erwies.
Diesmal war die Installation in zwei Binnenräume und auf den Hof zwischen beiden Kirchen verlegt worden. Es waren bewegte Lichtnetze, über die sich der Betrachter in verborgene räumliche Tiefen hinablassen konnte. In beiden Kirchen rotierten in der Dunkelheit stundenlang langsam wie bewegt vertikale und horizontale Lichtbalken. Vielleicht vier Meter lang und 30 Zentimeter breit, tasteten sie jeweils vertikal und horizontal in unterschiedlicher Position, Richtung und Geschwindigkeit die Räume ab. Sanft legten sie sich waagerecht axial wie eine Lichthaut auf einzelne Gebäudeteile und reagierten sensibel auf jede räumliche Besonderheit. Das Licht sprang zurück in die Tiefen der Apsiden — oder warf sich auf die Pfeiler, die sich ihm entgegenstellten. Dann verloren sich die Streifen wieder in die Tiefen des Schiffs. Die bewegten Lichter erleuchteten die Fenster von innen und erhellte in ihren hellen Streifen einzelne Skulpturen, Bilder oder Instrumente, um sie im Fragment zu erleuchten oder in der Fantasie, aus Erinnerung erweckt, gänzlich vor Augen treten zu lassen, unentwegt, von Ost nach West, von Süd nach Nord, ohne Halt, in gesetzlicher Rhythmik und mit unerbittlicher Klärung.
Ein derart helles Licht hat seine wechselnde Wirkung. Es zeigt nicht nur räumlich lebendige Details, es beruhigt und eröffnet eine bestimmte Atmosphäre, die sich auf die Achsen seiner Bewegungen legt. Daraus ergibt sich eine neue Wahrnehmung des sakralen Raums. Er ist jetzt noch mehr bei sich selbst als in den oft lauten Farb- und Lichteffekten, den steinernen Materialien und ihrer stilistisch identischen Schichtungen. Über all dies hinaus erhellt sich im Zwielicht der Raum der Ruhe und der Konzentration, welche mit Staunen und Erheben wahrgenommen wird. Jetzt zeigt er sich mehr als sonst als ein Ort des Überstiegs, weg von sich selbst und vom Alltag, hin zu offenen Fragen und Deutungen. Diese Atmosphäre ist vom Dunkel des Abends gestützt und vom Licht in eine neuartige Offenheit geführt. Es steigert die Illusionen der Architektur und vertieft in seiner konzentrierenden Wirkung die Erfahrung des Subjekts als der persönlichen Mitte des Lebens samt seiner Orientierungen.
Dominierten im Museum die nach innen gewandte dunkleren romanischen Steinmassive aus Mauern und stark gestützten Bögen, so in der Pfarrkirche die nach außen zum Sonnenlicht aufgebrochenen gotischen Maßwerke der Fenster und helleren Stuffsteinpfeiler und rohen Putzwänden. Die einheitlichere Romanik erlaubte nur zwei rotierende Projektoren, die den Raum differenzierende Gotik deren vier, zwei auf den Emporen, zwei unter den Arkaden.
Dreimal bekam das Licht ein Kreuz in seinen Fokus: in Sankt Caecilien den romanischen Kruzifixus aus St. Georg (1070), in Sankt Peter das gotische Passionskruzifix (1473) und die barocke Petrusmarter des Peter Paul Rubens (1638). Entweder streifte das Licht blitzartig über das ganze Werk, oder aber es zog sich so langsam wie zärtlich über einen kleinen Teilaspekt. In jedem Fall berührte sich hier die Installation mit der geistigen Mitte des Raums. Dieser wiederum zentrierte den Blick auf einen mehr und mehr erwarteten Augenblick, der erst erwartet, dann nach und nach herannahte und sich schließlich immer wieder in der Überlagerung von Quer- und Längsbalken einstellte: In der Mitte der Apsis als eine große Überkreuzung aus Licht. Darin überlagerten sich zwei symbolisch beladene Zeichen des Glaubens, das Licht und das Kreuz. Beide repräsentieren als ihren inneren Sinn Jesus Christus. Im Zeichen des Lichtes tritt er in die Welt. Er ist nicht wie ein Licht, sondern er ist selber das Licht schlechthin. Das Licht und das Wort gehen hier ineinander über und werden ein und dasselbe. Sie gebären das Leben Jesu Christi, dem Fleische nach und dem Geist nach: In ihm war das Lehen. Und das Leben war das Licht der Menschen. Denen aber trat er zur Seite. Er war das Licht in der Finsternis. In (sic.) indem er in die Finsternis trat, inkorporierte er sich ins Fleisch und mochte diese Zone der Welt hell, heißt es im Johannesprolog. An dieser Stelle transformiert sich das Licht in die Fähigkeit des Menschen zu sehen und sich über sich selbst wie über die Welt Klarheit zu verschaffen. Jetzt tappt er nicht mehr im Dunkeln, sondern sieht seinen eigenen Weg durch die Welt. Der Mensch braucht dieses Licht, um zu sehen und sich zurechtzufinden.
Bei Mischa Kuball wird das Licht nie nur zum Medium; es geht ihm nicht um physikalische Lichtreflexe allein, sondern vor allem um einen Dialog mit dem Licht, das nicht von der Aufklärung allein verstanden wird. Das Licht ist ein existentielles Medium, das von vielen Faktoren gefiltert wird; bei Tag vom Licht und vom Raum und von der Subjektivität des Betrachters; und im Lichtraum des Abends, von seiner Materialität wie Metaphorik, aber ebenso vom Raum und dem Inneren des Betrachters. Aus allem ergibt sich Atmosphäre, Poesie, Erinnerung und Klang. Der Betrachter tritt dabei zwangsläufig in den Dialog. Dieser verläuft vor-sprachlich. Darin eröffnet sich eine sphärische Ebene, auf die Sehende vielleicht später ein kreatives Wort seines Verstehens legen. Es ist wie eine Art Skriptur, bei der sich das Abgründige ausdrückt, aber auch gebändigt wird.
Eine solche Skriptur ist aber nicht nur die künstlerische Intervention in die Räume, sondern auch das Zeichen, das der Betrachter in seinem Sehen entdeckt. Es ist das Kreuz, in das hinein sich das Licht aufhebt, weil dieses Licht in diesem Zeichen nicht nur von der Finsternis des Todes überwältigt wird, sondern auch die innere Kraft seines Lebens in der Auferstehung demonstriert. Die Architektur wird durch das Licht-Kreuz durch und durch verwandelt, „dass der Raum aus Stein ein Raum aus Licht, das mühsame System aus Stütze und Last ein Fluten aus leuchtenden Mauern“ wird — um es mit den Worten des großen rheinischen Kunst-historikers Heinrich Lützeler (1902 - 1988) zu sagen. In biblischer Sprache erheben sich in diesen erleuchteten Mauern und Fenstern die Visionen des neuen Jerusalems, des neuen Himmels und der neuen Erde.
Das lateinische Wort und der moderne Kunstbegriff Video bedeuten beide den Satz Ich sehe! Das Licht ist es, das sichtbar machen kann, was nicht sichtbar ist. Für den amerikanischen Künstler Bill Viola ist darum das wache Auge eine wirkliche Video-Kamera, das der Sehende auf das Unsichtbare richten kann. Es ist die Möglichkeit, die Wirklichkeit zu schauen und zugleich in eine Welt einzudringen, die sich hinter der offenbaren Wirklichkeit verbirgt. Das waren nicht nur die einzigen Wirkungen der Zwei Abendräume für Köln.
In: Mischa Kuball: Zwei Abendräume für Köln, Sankt Peter/Sankt Cäcilien Köln. Hg.: Friedhelm Mennekes SJ. Köln 2006.
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