Peter Friese


 

Von der Nachhaltigkeit ephemerer Bilder


Gedanken zu Mischa Kuballs Installation Schleudertrauma.

Mischa Kuball hat in seiner raumbezogenen Ausstellung im Kunstverein

Ruhr mit äußerst sparsamen Mitteln gearbeitet. Im Grunde

sind es nur zwei Videoprojektionen, die permanent auf den beiden

Längswänden des etwa 55m2 großen Raumes zu sehen sind. Sonst

nichts. Rechnet man noch die notwendigen Video-Beamer hinzu,

haben wir es hier mit einer sehr „minimalistischen“, aufs Wesent-

lichste reduzierten Videoinstallation zu tun – in einem ansonsten

leeren Raum.

Video-Projektionen sind zudem Ephemera. Reine Licht-Bilder,

welche wegen ihrer medienspezifischen Flüchtigkeit und Immate-

rialität von vornherein ein anderes Sehen herausfordern als es etwa

Gemälde oder klassische Skulpturen schon wegen ihrer Materialität

und Permanenz tun. Schaltet man den Beamer aus und die Decken-

beleuchtung an, bleiben am Ende nur noch die weißen Wände des

Raumes und nichts erinnert mehr an das soeben noch Gesehene.

Einerseits mag eine solche lakonische Feststellung wie ein unwichti-

ger Allgemeinplatz klingen, gehört doch der Umgang mit Fernse-

hen, Film und Video, ebenso wie das Ein- und Ausschalten von

elektrischem Licht eigentlich zu den selbstverständlichsten Grund-

erfahrungen unserer Zivilisation. Andererseits erscheint ein solcher

Prolog jedoch sinnvoll und angebracht, wenn man erfährt, daß

Mischa Kuball in seiner Arbeit immer wieder vorzugsweise

reines Licht, aber auch Dia- oder Videoprojektionen gezielt und

ohne jedes Beiwerk einsetzt. Das von seinem Wesen her Immateri-

ellste und Flüchtigste also hat er zur Grundlage seiner Arbeit

gemacht. Licht aber erhellt, kennzeichnet, hebt hervor, ohne dasje-

nige, was es trifft, in seiner Substanz zu verändern. Und in der Tat

geht es Kuball in seiner Arbeit nicht um massive malerische oder

skulpturale Eingriffe, sondern um in der Regel nur temporäre

Markierungen und Hervorhebungen eines bestimmten Ortes, eines

Gebäudes oder der vorgegebenen räumlichen Situation. Man kann

also davon ausgehen, daß der Einsatz von Video auch im Falle der

Essener Installation Schleudertrauma von einem Umgang mit die-

sem Medium zeugt, der trotz oder gerade wegen der hier so ein

dringlich veranschaulichten Flüchtigkeit der Bilder nichts mit dem

alltäglichen Abspielen einer Videokassette oder dem beliebigen

Umschalten von Fernsehprogrammen mit Hilfe einer Fernbedie-

nung zu tun hat.

Was also ist zu sehen: Kuball arbeitet bei Schleudertrauma mit den

Projektionen zweier großer Bildfelder. Das, was sich darin auf sehr

bewegte Weise abspielt, scheint auf den ersten Blick ganz und gar

der Vorstellung des sprichwörtlich Ephemeren, Flüchtigen und

Immateriellen eines Videobildes zu entsprechen. Man glaubt, an

einer visuellen Karussellfahrt beteiligt zu sein – so schnell ziehen

kaum zu verfolgende Kameraschwenks am Betrachterauge vorbei.

Die derart aufgenommenen Bilder können somit nur verzerrt und

verschwommen wahrgenommen werden. Auch das Gefühl, aus

einem fahrenden Zug heraus nach draußen zu blicken, stellt sich

bei diesen fensterartigen Ausblicken bisweilen ein. Abwechselnd in

vertikaler und horizontaler Bewegungsfolge sieht man jeweils etwa

dreiminütige Sequenzen schneller Kamerafahrten, welche offen

sichtlich im Innenraum der Alten Synagoge aber auch außen, direkt

vor ihrem Hauptportal, entstanden sind. In ihrem Aufbau und inne-

ren Rhythmus gleichen sich die linke und die rechte Bildprojektion,

doch laufen sie ständig gegen- und nebeneinander und zudem zeitversetzt,

so daß es keinen Parallel- oder Synchronlauf wirklich

identischer Aufnahmen gibt. Nach einer gewissen Zeit der Betrach-

tung (die man sich schon nehmen sollte) erkennt man: Alles dies

ist konzipiert, durchdacht, gewollt, aufs Wesentliche reduziert und

zusammengestellt und kaum etwas davon scheint dem Zufall über

lassen worden zu sein.

Wie aber und aus welcher inneren Notwendigkeit heraus sind diese

merkwüdigen „geschleuderten“ Bilder entstanden? In welcher

Beziehung stehen sie zum Ort, zum Raum und zum gesamten

Gebäude? Kuball hat die Kamera mit ausgestreckter Hand, vom

Körper so weit wie möglich entfernt, in schneller Bewegung regelrecht

um sich selbst rotieren lassen. Sein Arm konnte so zum

Radius und seine Schulter zum Mittelpunkt besagter Kreisbewegung

werden. Selbst wenn es auf den ersten Blick in diesen Bildern nicht

erkennbar ist, erhalten die gesamten Aufnahmen hierdurch einen

mittelbaren (weil letztlich visuell und gedanklich nachvollzieh-

baren) Körperbezug. Ihre Bewegungen, ihr Rhythmus haben im

leiblichen Aktionsradius des Künstlers ihre Entsprechungen. Die

Dauer der einzelnen Sequenzen entspricht in etwa der maximalen

Belastbarkeit des durch die Kamera beschwerten Arms und letztlich

auch des Kugelgelenks in der Schulter. Durch den so nach außen

verlagerten Schwerpunkt erhält die kreisende Kamerafahrt zudem

auf natürliche Weise eine gewisse Stabilität und Präzision.

Doch an dieser Stelle sollte nach dem Motiv einer derartig kreisen

den, sozusagen vom Körper ausgehenden „Bildfindung“ gefragt

werden. Geht es Kuball hier um die Erweiterung einer Vorstellung

einer „Subjektiven Kamera“, um Unmittelbarkeit, Unverfälschtheit,

Körperbezogenheit als solchen? Wenn es so wäre, dann entspräche

dies einer Haltung, wie sie in der Malerei eines Jackson Pollock vor

fünfzig Jahren noch volle Gültigkeit beanspruchen durfte, jedoch

mit der konzeptuellen Denk- und Vorgehensweise eines Mischa

Kuball eigentlich nicht zu vereinbaren ist. Auch ein vermittelter und

durch das Medium gleichsam gebrochener Körperbezug wie beim

Videokünstler Gary Hill (nämlich die Welt aus der Hand- oder

Fußperspektive wahrzunehmen) kann Kuball nicht unterstellt werden.

Wo also liegt die innere Notwendigkeit dieser mit der Fliehkraft des

rotierenden Armes gesteuerten Aufnahmen? Worin der Bezug zum

Kontext des Raumes, des Gebäudes und des gesamten Geschehens

und welche besonderen ästhetischen Erfahrungen und letztlich

auch Erkenntnisse können mit dieser offensichtlich durchdachten

und durchstrukturierten Visualisierung gemacht werden?

Zunächst gilt es festzuhalten: Mischa Kuball setzte sich (wie vor ihm

andere Künstler auch) zunächst mit dem Ausstellungsraum und sei-

nen architektonischen Besonderheiten auseinander. Im Grunde ist

der Ausstellungsraum des Kunstvereins von seinem Wesen her ein

„White Cube“, ein neutraler Raum mit weißen Wänden, der aller-

dings in seiner Mitte die besagte π-förmige Pfeilerkonstruktion

aufweist. Dieses markante Architekturdetail ist unübersehbar und

für die hier Ausstellenden immer sowohl Anregung als auch Ein-

schränkung zugleich. Läßt sich jemand – ganz gleich welches

Kunstkonzept oder Genre er dabei vertritt – auf diesen Raum ein,

hat er mit diesem merkwürdigen Doppelpfeiler zu rechnen. Und die

schlichte Tatsache, daß dieser nicht zu ignorieren ist, formuliert

wie von selbst die Forderung, ihn zu integrieren. Und wenn man

erfährt, an welcher Steile genau im Untergeschoß des alten Gebäu-

des sich dieser aus statischen Gründen einfach notwendige Pfeiler

befindet, wird klar, dass der „Genius Loci“ nicht nur im zentralen

Sakralraum, sondern auch hier spürbar und sichtbar wird -  voraus

gesetzt, man versteht die architektonischen Grundlagen wie Zeichen

zu lesen. Dieser kleine, im Sinne eines „White Cube“ abgeschirmte

und aus Gründen der Kunstpräsentation gleichsam neutralisierte

Raum im Untergeschoß der Alten Synagoge ist somit nicht nur sta-

tisch, sondern auch organisch mit allen anderen Teilen des Gebäu-

des verbunden. Für Kuball war diese Erkenntnis ausschlaggebend

und Motivation genug, sich nicht nur mit der faktisch vorhandenen

Architektur und der heutigen Nutzung des Gebäudes, sondern auch

mit der wechselvollen Geschichte des jüdischen Gotteshauses und

seiner Lage im Innenstadtbereich der Ruhrmetropole zu beschäf-

tigen. Er stellte gedankliche Verbindungen her zwischen dem Innen

und dem Außen, dem Oben und Unten, dem Raum und den

Räumen, den Wänden und Mauern, dem lastenden Thoraschrein

mit seinen meterdicken Wänden und der ihn tragenden Unterkon-

struktion. Die innere Kohärenz der einzelnen Gebäudeteile, die

Verbindungen durch die Treppenhäuser, fand er ebenso bemer-

kenswert, wie die zentrale innerstädtische Lage des Gesamtkomplexes.

Bezeichnenderweise befindet sich die Synagoge

in direkter Nähe zur Essener Münsterkirche, zum Rathaus, und zur

„Konsumzone“ mit ihren (in fast allen deutschen Großstädten

gleichförmigen) Ladenketten und Kaufhäusern. Ihm fiel auf, daß

die Außenarchitektur aus dem Jahr 1913 bezeichnenderweise

sowohl wilhelminischen als auch orientalischen Charakter hat und

daß das mit grün oxydiertem Kupfer gedeckte Dach inmitten des zu

Stoßzeiten tosenden Verkehrs wie ein rundes ruhendes Pendant

zum benachbarten im gleichen Material gedeckten rechtwinkeligen

Dach des Münsters wirkt.

Kuballs Auseinandersetzung mit diesem speziellen Ort und seinen

architektonischen Vorgaben geschieht also nicht isoliert, ästhetisch

abgehoben, oder beschränkt auf rein formale Aspekte – so immens

wichtig am Ende seine strenge formale Entscheidung im Ausstel-

lungsraum des Kunstvereins auch sein mag. Er begreift die Alte

Synagoge, den Ort des Geschehens, als historisch gewachsen, als

Gebäude, dessen Vergangenheit sich noch heute in vielen Details

offenbart. In solchen Zusammenhängen gedacht steht das zentral

gelegene Haus also nicht nur für die Geschichte der Juden in Essen,

sondern für Essener Geschichte insgesamt, die ohne Juden gar

nicht denkbar wäre. Wer an so zentraler Stelle ein solch großes

Gotteshaus bauen kann, kann nicht unbedeutend sein. Und in der

Tat kündet das monumentale Gebäude aus grauem Kalkstein mit

seiner weithin sichtbaren grünen Kuppel noch immer von dieser

Bedeutung. Diese Wahrnehmungs- und Reflexionsvorgänge verdich-

ten sich in Mischa Kuballs Arbeit. Sie werden zur Motivation und

letztlich zum Motiv, die raumbezogene Ausstellung im Kunstverein

Ruhr über ihre konkrete Verortung im Untergeschoß der Alten

Synagoge hinausweisen zu lassen, sie gleichsam gedanklich vertikal

nach oben in den ehemaligen Sakralraum und horizontal weit über

die dicken Mauern hinaus in die Essener Innenstadt dringen zu

lassen. Was erinnernd und gedanklich projizierend möglich und

notwendig erscheint, erhält sein ästhetisch-formales Äquivalent in

einem „Projektionsraum“ im wahrsten und damit doppelten Sinne

des Wortes.

Kuballs Entscheidung für die minimalistische Vorgabe einer

Doppelprojektion ermöglicht und begünstigt geradezu ein solches

„über den Raum Hinausgehen“ des eintretenden Betrachters. Nor-

male, das heißt vor allem kognitive Wahrnehmung kommt hier im

direktesten Wortsinn „ins Schleudern“ – man weiß im ersten

Moment nicht was gezeigt wird, wo es sich befindet und auch nicht

warum man es in dieser Weise zu sehen bekommt. Statt eindeutiger

visueller Orientierung im Hier und Jetzt erleben wir eine vom

Künstler bewußt inszenierte Desorientierung, ein Anschleudern

gegen die gewohnte Verortung und Bestätigung. Weil die schnellen

Kamerabewegungen zudem noch in umgekehrter Uhrzeigerrichtung

ablaufen, haben wir es hier auch mit einem (durchaus lesbaren)

Anschleudern gegen die gewohnte Leserichtung (des Abendlandes)

zu tun, ein Schleudern gegen die verordnete und bestehende

Weltordnung sozusagen. Natürlich ist und bleibt dies alles ein

ästhetischer Gegenentwurf, der das, was ist, ästhetisch, symbolisch,

gedanklich aus den Angeln hebt. Doch was anderes sollte Kunst

sonst „leisten“, als gültige Gegenbilder zum Bestehenden zu entwer-

fen?

Auch die hier sichtbare Verzerrung der Realität dient in ihrer Struk-

tur und ihrem Charakter diesem ästhetischen Gegenentwurf: Indem

ich das Haus, in welchem ich mich augenblicklich befinde, und

seine Umgebung gedehnt, verzerrt und zerstückelt in rasenden

Bewegungen erlebe, werde ich gezwungen, es mir gedanklich

neu zu rekonstruieren und zu ordnen. Indem die geschnittenen

horizontalen und vertikalen Kreisbewegungen der Kamera neben und

hintereinander zu sehen sind, de-konstruieren sie das Haus als

ganzes, stimulieren sie mich als Betrachter, es anders als in bislang

gewohnter Weise und vor allem in erweiterten Zusammenhängen

zu sehen. Sie veranlassen mich, wie gesagt, Verbindungen herzu

stellen zwischen dem Innen und dem Außen, dem Oben und dem

Unten und am Ende auch zwischen dem Damals und dem Jetzt.

Die formale radikale Reduktion und Konzentration Kuballs begün-

stigt zudem noch eine auf den Betrachter selbst zu beziehende

ästhetische Erfahrung. Nicht nur bei Schleudertrauma, sondern

eigentlich in Kuballs gesamter Arbeit ist ein Betrachter gefragt,

der das, was er sieht, nicht einfach „auf sich wirken“ läßt, sondern

der von Beginn an bereit ist, auch seinen Verstand einzuschalten.

Hier geht es darum, sich im Raum zu bewegen und sich gleichsam

vom Raum selbst bewegen zu lassen, ihn als Teil eines architekto-

nischen Ganzen, und sich selbst darin als einen anderen integra-

len und unabdingbaren, weil zur Reflexion fähigen Teil zu be-

greifen. Jemand,  der sich mit Sinnen und Verstand der schnellen,

pulsierenden Bilderfolge von Schleudertrauma aussetzt, versetzt

sich am Ende selbst in die Lage, die Beweg- und Hintergründe für

die besondere künstlerische Vorgehensweise nachzuvollziehen.

Eine solche Wahrnehmung aber ist nicht mit „interesselosem Wohl

gefallen“ zu verwechseln, sondern sie ist selbst reflektierter

Bestandteil des ganzen Unternehmens. Ich sehe letztlich die flüchti

gen Bilder nicht für sich, sondern ich begreife mich dabei als

Sehenden. Ich beginne über die Bedingungen der Möglichkeiten

meiner Wahrnehmungen nachzudenken und begreife mich (mit

samt meinem eigenen „Ins-Schleudern-Kommen“) als Bestandteil

meiner ästhetischen Erfahrungen. Ich vermag letztlich auch die

Veränderungen in meinem Wahrnehmen und Denken zu registrie-

ren, die sich nur durch die Einlassung auf diese sehr reduzierte

Videoinstallation ergeben haben.

Mischa Kuball zielt in seiner Videoarbeit eben auf eine besondere

ästhetische Erfahrung ab, welche sich trotz oder gerade wegen der

Flüchtigkeit seiner rasenden Kamerafahrten vor allem durch ihre

Reflexivität und Nachhaltigkeit auszeichnet.

 

 

In: Mischa Kuball: Schleudertrauma / Slings of Memory. ed.: Kunstverein Ruhr, Essen 2006, (ISBN: 3-9803846-7-5), S. 43-50.

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