Auch wenn man ohne besondere Vorurteile oder Ängste gegenüber der Apparate-Medizin
den Kernbereich der neurochirurgischen Klinik betritt, beeindrucken die kompakte Präzision
und Stummheit der Maschinen. Auch ohne daß man etwas über die genaue Funktionsweise
und Leistungsfähigkeit der Instrumente erfährt, berührt schon das vage Wissen über ihre
Eigenschaften die Grundlagen unseres Welt- und Selbstverständnisses. Diese Maschinen
können das sehen, was unserem Auge verborgen ist. Anders als etwa ein Fernrohr oder ein
Radargerät machen sie jedoch nicht Objekte draußen in der Welt sichtbar, sondern unser eigenes
Inneres. Und sie tun das in vivo, bei lebendigem, unversehrtem Körper. Selbst wenn es hier
„nur“ um das Erspähen bestimmter organischer Regionen geht, ist der Vergleich mit dem Blick
in die Seele nicht völlig abwegig. Es werden dem Auge Räume erschlossen, die ihm in der
bisherigen Menschheitsgeschichte unzugänglich waren. Das, was früher nur durch das eigene
Gefühl bzw. dem Arzt durch indirekte Anzeichen vermittelt wurde oder mit Hilfe von Kennt-
nissen und Spekulation imaginiert werden musste, ist durch diese neuen Instrumente nun dem
Auge selbst in noch nicht gekannter Deutlichkeit preisgegeben.
Dem Sehen mit den eigenen Augen wird gemeinhin immer noch die höchste Beweiskraft zu-
gebilligt – so sehr uns die Bildmedien der Moderne hierin auch skeptisch gemacht haben. Wenn
die Erfahrung des Sehens = Kennens nun in unser Innerstes dringen kann, wird eine bis lang
verschlossene Zone verletzt, etwas bisher verborgenes wird im wahrsten Sinne des Wortes ans
Licht gezogen. Und wenn das Auge so nun „alles“ sehen kann, ist auch ein Zentrum unserer
Identität berührt. Der Hinweis auf die heilende Absicht dieser Grenzüberschreitung bringt die
Irritationen des Selbstverständnisses nicht wirklich zum Schweigen. Hier, In diesen Geräten,
nämlich ist unsere gewohnte Vorstellung vom Zentralorgan Auge und seiner unmittelbaren Nähe
zur Erkenntnis, zum Wissen und zum Sein gleichsam durch eine Art von Überfüllung seiner
Möglichkeiten infrage gestellt.
Beeinflussen schon die neuen bildgebenden Diagnoseverfahren – so betrachtet – die Wurzeln
unseres Selbstverständnisses, geht ein Werkzeug wie das Gamma Knife noch einen Schritt
weiter. Es sieht nicht nur in Verborgenes hinein. Es benutzt gleichsam eine Art Sehvorgang als
Waffe, um etwas Falsches im Innern eines Menschenzentrums schlechthin, dem Gehirn, zu
zerstören. In gewisser Weise ist so eine alte magische Befürchtung wahr geworden: Blicke
können töten. Solche Maschinen und solche Fragen müssen einen Künstler interessieren, für
den das Licht nicht allein Medium, sondern Thema ist. Wenn er zudem das Licht nicht nur als
physikalisches Phänomen begreift, sondern als einen sozialen Raum, wird die Affinität zu einer
solchen Klinik, in der es ja nicht um die Demonstration von Technik, sondern um den heilenden
Umgang mit Menschen geht, noch deutlicher. Mischa Kuball bewegt sich als Künstler im gleichen
Dreieck von Sehen, Erkennen und Handeln; er operiert im gleichen Spannungsfeld zwischen
isolierten Phänomenen und sozialer Interaktion. Seine Arbeit reflektiert diese Fragen im Raum
der Bilder und Blicke – unaufdnnglich, ja fast beiläufig.
Schon bald muß ihm klar geworden sein, daß er der intensiven, wenn auch kaschierten Präsenz
der medizinischen Apparate keinen vergleichbaren künstlerischen Aufwand entgegensetzen kann.
Nicht nur aus räumlichen Gründen hat er daher auf den Einsatz von Lichtquellen und Projektionen,
mit denen er sonst häufig arbeitet, verzichtet. Sein Beitrag beschränkt sich auf die traditionelle
Form des Bildes an der Wand. In einer Architektur, deren hohe Spezialisierung dem Besucher ver-
borgen bleibt, hat er den Zugangskorridor und den kleinen Wartebereich für Patienten und Ange-
hörige gewählt. Der Nüchternheit und Alltäglichkeit dieser Räume antwortet er mit einem
Typus von Bild, wie man ihn an solchen Orten als dekorativen Teil der Ausstattung häufig findet:
einem Foto hinter Glas in einem funktionalen Metallrahmen. Es ist sechsmal das gleiche, nur ein
wenig variierte Motiv, das einem auf dem Weg zu den Behandlungsräumen begegnet. Die
Darstellung ist nicht zweifelsfrei zu erkennen, erweckt jedoch unmittelbar den Eindruck einer
gewissen Konzentration. Man sieht eine kreisförmige Anordnung von Lichtreflexen, die in
der Mitte gebündelt sind und gleichzeitig wie durch ein Prisma gebrochen scheinen. Durch
diese Auflösung hindurch meint man bisweilen jedoch das Bild eines realen Außenraums
erkennen zu können. Und in der Tat sind diese Fotos Einzelaufnahmen aus einem Video des
Künstlers mit dem Titel „Stadt durch Glas (Sieh‘ durch meine Augen)“, 1995/96. Er hatte für
diesen Film ein einfaches, vielkantiges Wasserglas über das Objektiv der Kamera gestülpt und
so eine Autofahrt bzw. einen Fußweg durch eine Stadt aufgenommen. Im Film und auf den
Fotos entstand so ein mit einfachsten Mitteln herbeigeführter Perspektivwechsel, der als eine
Art von Bildstörung erlebt wird. Das Eigentümliche des Blicks durch den ungewohnten Seh-
apparat ist jedoch, daß die Auflösung und Verzerrung der Realität aufgewogen wird durch eine
bestimmte Art von Sammlung. Der etwas geheimnisvolle Fokus dieser Betrachtung suggeriert,
dass in seinem Zentrum das Wesentliche zu suchen sei. Und nicht von ungefähr erinnert das
Motiv auch an ein Auge – also an das Fenster zur Seele, um es altmodisch aus zudrücken –
oder an einen leuchtenden Himmelskörper.
Ergänzt werden die Fotos jeweils durch einen vertikalen Spiegel, der sich unmittelbar an das
Motiv anschließt. Neben den Fokus des Blicks durch das Glas auf etwas, das anderswo ist, tritt
also die Reflexion des realen Raums, in dem man sich befindet. Die Spiegelbilder vermitteln
zwar eine leicht einsehbare und überprüfbare Wirklichkeit in nächster Nähe, zerstreuen aber
gleichzeitig den Blick, da sie bei jeder Bewegung des Betrachters neue Fragmente der Um-
gebung einblenden. Geht man den Korridor entlang, werden die gegenüberliegende Wand
ebenso wie der Außenraum jenseits der Fenster oder auch die Menschen im Gang für einen
kurzen Moment Teil des Gesamtbildes.
Die Spiegel sind wie Gelenkstellen, die –wenn auch in „verkehrter“ und flüchtiger Weise – die
Arbeit an ihren Ort binden. Die Wiederholung ähnlicher Motive in den Bildern will so weniger
als eine Reihe von Einzelarbeiten gelesen werden, sondern als ein den Raum bezogenes Kon-
tinuum, als eine zusammenhängende Arbeit, die unter anderem die Blicke und Schritte dessen
leitet, der sich auf den Kern dieses Ortes zubewegt. Und wenn die Türen zu den verschiedenen
Kontroll- und Behandlungsräumen aufgehen, geraten die Bilder des Künstlers in direkte Nach-
barschaft zu den bildgebenden Sehapparaten der Klinik. Für einen Moment kreuzen sich die
medizinischen und die künstlerischen Blicke im Auge des Betrachters – bildlich gesprochen.
Die Arbeit von Mischa Kuball in der neurochirurgischen Klinik thematisiert das Sehen selbst,
das notwendigerweise bei seiner Orientierungsaufgabe in der Welt ständig zwischen Konzentra-
tion und Auflösung, zwischen Fokussierung und Zerstreuung pendelt. Sie spielt zugleich in nicht
illustrativer Weise auf die unterschiedlichen Verfahren und Instrumente an, mit denen das Sehen
konkrete Aufgaben besser zu erfüllen sucht. Und sie schlägt an diesem Ort eines aufs höchste
gesteigerten Sehens - und seiner an ‚Wunder“ grenzenden Folgen – eine Brücke zwischen der
stummen Dominanz der Maschinen, dem realen Umraum und den hier agierenden Menschen.
Die Arbeit tut das in der zurück haltenden, ja bewußt konventionellen Form von Bildern, die
an einem Ort von Präzision und Anspannung ebenso Ruhepunkte setzen wie „Reflexion“ und
„Ausblick“ ermöglichen.