Die Welt und das Bild - das Bild und die Welt
Der Blick dreht sich im Uhrzeigersinn auf einer imaginären Spirale aus der relativen Weite der
umgebenden städtebaulichen Situation in die räumliche Enge des Museumsraumes, um dort
den gleichen Weg erneut aufzunehmen. Draußen kommen Passanten von rechts über den
Platz, gehen am Haus entlang die Treppe hin unter und verschwinden langsam nach links
aus dem Gesichtsfeld. Autos biegen um die Ecke. Das Auge schweift über die umliegenden
Gebäude, bleibt für Sekundenbruchteile an Musikinstrumenten in einem Schaufenster hängen,
überspringt die befahrene Straße, fällt auf die Leuchtschriften eines Cafés und mehrerer Re-
staurants, schwingt in die Höhe, an Bürofenstern entlang, wird abgelenkt auf einen Brunnen,
nimmt den alten Weg wieder auf und gleitet über die Fensterfront des rechts vom Brunnen
liegenden Geschäftshauses, springt auf die andere Straßenseite, schweift ruhig über die
gleichmäßig gegliederte Fassade eines Hotels mit verglaster Arkade und verliert sich im
kleinteiligen Budendorf des Weihnachtsmarktes.
Drinnen folgt der Blick einem schemenhaften Bild, welches im Uhrzeigersinn über die Wand,
jeden Körper im Raum und die Fensterscheibe zieht, gefolgt von einem zweiten rotierenden
Bild: Reflektionen einer Licht-Bild-Projektion, die durch ihren symmetrischen Aufbau diffuse
Erinnerungen an Gebilde der Natur wachrufen. Offen und vielfältig sind die Vorstellungen, die
sich mit dem Bild verknüpfen, - eindeutig erkennbar zwei spiegelsymmetrisch angeordnete,
einander teilweise überlagernde Weltkarten. Beide drehen sich - zunächst fast unmerklich –in
entgegengesetzter Richtung um die Äquatorachse, so daß die in der Aufsicht erscheinende
Fläche immer wieder schrittweise schmaler und breiter und wieder schmaler und wieder breiter
wird. Entsprechend verändern sich die kreisenden Licht-Bild-Reflektionen, die auch eine
dreigesichtige, als Hl. Dreifaltigkeit zu interpretierende Skulptur aus der Sammlung des
Museums zum Bestandteil der raumgreifenden Arbeit machen und jeden einbeziehen, der den
Raum betritt.
Mischa Kuballs so einfach erscheinende und ganz selbstverständlich wahrzunehmende rotie-
rende Dia-Projektion mit dem barocken “Dreigesicht“ entpuppt sich als komplexe Arbeit über
die Wechselbeziehungen zwischen der Welt der Dinge, der Welt der Vorstellungen und der
Welt der Bilder. Alles dreht sich, alles verändert sich: Bilder werden von neuen Bildern über-
lagert, Vorstellungen durch neue Vorstellungen abgelöst, scheinbar eindeutige Bilder mit nicht
festgelegten Vorstellungen verknüpft, und Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, geraten
in vielfältige Beziehung zueinander.
Was ist eigentlich die Welt? Ist sie wie in der Dia-Projektion eine gedankliche Projektion derer,
die sie zu kennen glauben? - Die Vorstellung von Welt, wie sie sich in einer Weltkarte manifestiert,
erwächst aus dem Grundbedürfnis des Menschen, die Welt der Dinge und die Welt als Vorstellung
in repräsentative Bilder zu fassen. Immer wieder, solange die Menschheit existiert und die Welt,
in der sie lebt, bildhaft zu erfassen versucht, hat sie neue Vorstellungen geprägt. So betrachtet ist
die von Kuball verwendete Weltkarte keineswegs nur graphische Systematisierung der heutzutage
exakt vermeßbaren und photographisch erfaßbaren Topographie. Sie ist nicht nur ein Bild der Welt,
sondern repräsentiert auch ein modernes Weltbild, eine Sicht von Welt, die sich so erst durch die
technischen und rechnerischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts ergibt. Fast möchte man glauben,
der Archimedische Punkt, von dem aus die Welt aus den Angeln zu heben wäre, sei entdeckt.
Aber im nächsten Augenblick treten an die Stelle eines durch Vermessen und somit durch
gesellschaftliche Übereinkunft definierten Bildes der äußeren Welt individuelle Vorstellungen aus
unbewußten Innenwelten. Auslöser ist die klappsymmetrische Anordnung zweier Weltkarten, die
an die Darstellung von Lungenflügeln erinnern könnte, oder an die beiden Hälften des Gehirns, an
ein Gesicht, einen Schmetterling, eine Orchideenblüte oder zig andere Dinge ... - Beim Rorschach-Test
Dienen ähnliche symmetrische Klecksbilder als psychologisch-diagnostisches Verfahren zur freien
Phantasiedeutung, die als Basis für Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur der Bildinterpreten
dienen. Wie sehr solche scheinbar ganz persönlichen inneren Bilder von den kollektiven
Vorstellungen des kulturellen Umfelds geprägt sind, hat sich in der Rauschmittelforschung
gezeigt: Die durch Drogen hervorgerufenen Halluzinationen, ebenfalls unbewußte Bilder,
sind kulturgebunden. Anders gesagt: an einen Schmetterling kann bei Kuballs Projektion
nur jemand denken, der schon einmal einen Schmetterling gesehen hat oder dem man zu
mindest einen Schmetterling beschrieben hat. So steht der Blick nach innen, in den persönli-
chen Mikrokosmos, in einem ständigen Spannungsverhältnis mit der von außen kommenden
Projektion des Makrokosmos: vielfältige, intuitive Assoziationen wie “Schmetterling“ oder
“Orchideenblüte“ konkurrieren mit dem analytischen Wahrnehmen und Erkennen eines aus
zwei Weltkarten konstruierten Licht-Bildes. Es sind zwei Weisen der Wahrnehmung, die zu
nächst nur nacheinander erfolgen können. Erst wenn sie als solche bewußt geworden sind,
kann sich in der wiederholten Wahrnehmung das Erkennen der Weltkarten mit der Assozia-
tion “Schmetterling“, “Orchidee“ oder anderen vermischen. Dann ist der auf den Makrokos-
mos “Welt“ gerichtete Blick gleichzeitig der auf den Mikrokosmos des Unbewußten gerichtete
und umgekehrt. - Und ständig verändert sich das Bild der äußeren wie der inneren Welt da
durch, daß sie sich dreht und daß sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wird.
Beide - Innenschau und Projektion - werden in regelmäßigen Zeitabständen gestört und von
ihren eigenen Reflektionen eingeholt; denn die Weltkartenprojektionen spiegeln sich in zwei
rotierenden Glasscheiben, welche die Bilder als Reflektionen auf den Raumgrenzen und auf
allem, was sich im Raum befindet, kreisen lassen. So fällt die projizierte Vorstellung von
der Welt auf jene zurück, die in ihr leben. Gleichzeitig berührt sie das barocke “Dreigesicht“,
das - als bloßes Phänomen betrachtet - mit drei Phasen eines sich drehenden Gesichtes die Torsion,
genauer gesagt, die Phasen einer Kopfdrehung zum Thema haben könnte, gleichermaßen aber
auch die Zeit oder die Klugheit mit dem Blick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Wahrscheinlich jedoch ist die Skulptur ein Versuch, die mit den Erkenntnismöglichkeiten der
Sinne, des Verstandes und der Intuition nicht definierbaren Vorstellung von der göttlichen
Dreifaltigkeit als dem auch von Theologen aller Zeiten immer wieder neu eingekreisten “In-
drei-Personen-einer“ in ein anschauliches Bild zu fassen.
Wenn dieses Dreigesicht als Darstellung der Dreifaltigkeit in die Kuball‘sche Installation ein-
bezogen wird, stellt sich die Frage nach den dadurch entstehenden Wechselbeziehungen.
Vordergründig spielt sicher die sowohl in der Skulptur als auch in der Dia-Projektion angelegte
Rotation eine Rolle. Darüber hinaus sind beide Werke in einem weiteren Sinne Versuche,
komplexe Bezugssysteme - zwischen den nicht kognitiv, nur glaubend faßbaren drei Wesen-
heiten einer Person das eine, zwischen den individuellen Welten und der allgemeinen Sicht
von Welt das andere - in eine verdichtete Form zu bringen. Durch Mischa Kuballs Installation
sind die formal so unterschiedlichen, durch drei Jahrhunderte und durch einen veränderten
Blick auf die Welt getrennten Werke so in Verbindung gebracht worden, daß die (Dia-) Reflektion
der Welt immer wieder die künstlerische Reflektion über eine Gottesvorstellung berührt.
Alles dreht sich: die Welt, die Reflektion der Welt, der Betrachter und seine An-Sicht von
Welt. “Gib mir einen festen Punkt, und ich bewege die Erde“, sagte Archimedes. In Mischa
Kuballs rotierender Dia-Projektion World-Rorschach/Rorschach-World scheint er gegeben,
dieser feste Punkt außerhalb der Erde, von dem aus die Welt in ein System gebracht wird, von
dem aus ein Weltbild als in sich geschlossene Vorstellung von Welt formuliert wird. Aber: Alles
dreht sich, alles verändert sich - auch wir drehen uns und verändern uns, und mit der Drehung, der
Reflektion vergeht der Augenblick, der ein Bild definiert, und mit dem Augenblick vergeht das
Bild und an seine Stelle tritt ein anderes.
In: Mischa Kuball: World-Rorschach/Rorschach-World; ed.: Diözesanmuseum Köln 1996
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