Pia Müller-Tamm



DIE STADT ALS PROJEKTION

MISCHA KUBALLS VIDEOCOLLAGE STADT DURCH GLAS (MOSKAU/DÜSSELDORF/MOSKAU)

IM AUSSENBEREICH DER KUNSTSAMMLUNG AM GRABBEPLATZ

 

 

I. Die Mehrzahl der Arbeiten von Mischa Kuball sind Ereignisse auf Zeit. Sei es für die Dauer einer musealen

Ausstellung oder als temporäre Intervention im öffentlichen Raum, ihr Auftritt hat den Charakter einer

flüchtigen Erscheinung. Dies resultiert aus der Wahl seiner künstlerischen Mittel: dem Licht, der Bewegung.

Kuball verwendet Licht als vorrangiges Element und Bedeutungsträger in einem umfassenden Sinn: Licht

vermag vertraute Orte neu zu strukturieren, vergessene Orte wieder ins Bewußtsein zu rücken oder neue

Orte zu konstruieren. In der Projektion kann Licht als immaterielle Haut Räume modellieren, als Durch-

leuchtungslicht läßt es diaphane Bilder temporär aufscheinen. Licht läßt sich in Bewegung versetzen und

kann den Betrachter in das Spiel der Reflexe einbeziehen. Dabei setzt Kuball auf einfache Apparaturen,

auf low tech. Viele der von ihm verwendeten optischen Instrumente orientieren sich an den Funktions-

weisen älterer Bildmedien. Die Vorliebe des Künstlers gilt Projektoren, die sowohl als Medium zur Über-

tragung von Licht als auch als integrale Bestandteile seiner komplexen Rauminszenierungen eingesetzt

werden. Zumeist verbindet Kuball die Funktionsweise alter optischer Apparate mit den avancierten tech-

nischen Standards der Gegenwart. Doch sind ihm Durchschaubarkeit und Nachvollziehbarkeit seiner

Versuchsanordnungen ebenso wichtig wie eine klare, reduzierte Formensprache. Auch wenn sich Kuball

immer wieder des elementaren Formenkanons der Moderne bedient, so sind die Mittel seiner Kunst – das

Licht, der Raum, die Bewegung – nicht nur ästhetisch, sondern auch sozial kodiert. Licht dient in vielen Fällen

dazu, räumlich beschreibbare Problemzonen zu „beleuchten‘, um ihre verborgenen Implikationen ans

Licht der Öffentlichkeit zu holen. In den komplexen Choreographien seiner Werke werden Bilder des kollek-

tiven Gedächtnisses wachgerufen und intensiviert, so daß sie zum Gegenstand einer kritischen Befragung

oder von Erinnerungsarbeit werden können. Immer ist seine künstlerische Praxis von einem diskreten

Aufklärungsinteresse geleitet; immer ist Kuball an der Bestimmung des öffentlichen Raumes interessiert.

Die großen Projekte, die der Künstler seit den frühen neunziger Jahren im Außenraum realisieren konnte,

haben „Strahlkraft“ in diesem mehrfachen Sinn entfaltet. In MEGAZEICHEN (Abb. 02) aus dem Jahr 1990 ver-

wandelte Kuball das Düsseldorfer Mannesmann-Hochhaus in den Nachtstunden in eine kolossale Lichtskulptur,

die das Stadtbild temporär veränderte. Voraus gingen viele Wochen der intensiven Gespräche mit

der Firmenbelegschaft, die durch ihre tägliche Mitarbeit – durch wechselnde Lichtschaltungen in den

Büros — das öffentlichkeitswirksame Lichtzeichen erst möglich machte. Auch REFRACTION HOUSE (Abb. 03), ein

Projekt in der Synagoge in Stommeln aus dem Jahr 1994, kreist um das Thema des Fensters als Membran

und Lichtbrücke zwischen Innen und Außen. Durch eine gleißend helle Beleuchtung im Inneren wurde das

kleine verschlossene Synagogengebäude zum in die Dunkelheit strahlenden Anziehungspunkt für den Be-

trachter, der allerdings beim Näherkommen massiv geblendet und zurückgestoßen wurde – eine radikale

Memorialinszenierung, die mit überaus einfachen und prägnanten Mitteln auf die Geschichte des Ortes und

die Gefahr des Vergessens aufmerksam machte.

 

In Projekten wie LICHTBRÜCKE AM BAUHAUS, Dessau 1992 (Abb. 04), und PEEP-OUT/LEERSTAND, Leipzig 1994 (Abb.

05), wählte Kuball das umgekehrte Verfahren: Hier wurde geformtes Licht von außen auf Gebäude pro-

jiziert, um inhärente Aspekte des Ortes zu illuminieren. In LICHTBRÜCKEAM BAUHAUS hat Mischa Kuball einfache

geometrische Flächen auf die Fassade von Gropius‘ Dessauer Bauhaus-Gebäude projiziert. Die architek-

tonische Sprache der Klarheit und Rationalität des Bauhauses mit ihrem programmatischen Anspruch

wurde durch eine Ebene der flüchtigen Sinneseindrücke überlagert, um auf diese Weise die Geschicht-

lichkeit der Moderne und die Möglichkeit ihres Überlebens zur Diskussion zu stellen. PEEP-OUT hat den

immensen Wohnungsleerstand in einem Leipziger Altstadtquartier thematisiert. Durch die nächtliche

Projektion kreisrunder Lichtfelder mittels kräftiger Strahler von einer bewohnten Wohnung auf das gegen-

überliegende Fenster einer unbewohnten Wohnung und von dort auf einen weiteren Leerstand wurde ein

subtiles Netz an Bezügen zwischen belebten und unbelebten innerstädtischen Orten gespannt.

 

II. Die Videocollage STADT DURCH GLAS (MOSKAU/DÜSSELD0RF/MOSKAU), die die Kunstsammlung nach Einbruch der

Dunkelheit für sechs Wochen im Winter 2003/04 auf die große Wand gegenüber vom Haupteingang des

Gebäudes am Grabbeplatz projiziert, hat eine längere Vorgeschichte in Kuballs Werk, die es kurz zu reka-

pitulieren gilt. Seit 1995 entstanden fünf verschiedene Werk- und Präsentationsformen von STADT DURCH GLAS

in den Medien Fotografie und Video. Alle Arbeiten verwenden Stadtbilder, die vom fahrenden Auto aus mit

der bewegten Kamera aufgenommen wurden. Die Besonderheit der Bilder liegt in einem gezielten, die

Kameraoptik verfremdenden Eingriff: Während der Aufnahmen war ein am jeweiligen Ort handelsübliches

Trinkglas vor das Objektiv montiert, was eine kalkulierte „Bildstörung“ – die prismatische Aufsplitterung

und Verzerrung des Bildes — zur Folge hat.

1995 entstand das Video STADT DURCH GLAS/DÜSSELDORF während einer Autofahrt vom Atelier des Künstlers am

Fürstenwall zur Galerie Konrad Fischer in der Platanenstraße. Dort wurde das Video 1996 unter dem Titel

STADT DURCH GLAS/SIEH DURCH MEINE AUGEN erstmals in einer Installation aus zwei hoch angebrachten Monitoren

gezeigt. (Abb. 06) Standbilder des Videos waren die Grundlage von Wandtableaus, aus denen Kuball ein

Ensemble formte, das in den Fluren und Behandlungsräumen der Neurochirurgischen Klinik in Krefeld seit

1999 permanent installiert ist. (Abb. 07) Ergänzt werden die querformatigen Fotos durch hochformatige

Spiegel, die den Ort und die sich bewegenden Menschen zum sich dauerhaft verändernden Teil der Arbeit

werden ließen. 1997 produzierte Kuball die New Yorker Fassung von STADT DURCH GLAS, die 2000 im Rahmen

der Ausstellung XX. Jahrhundert. Ein Jahrhundert Kunst in Deutschland unter dem Titel CITY THRU GLASS/

N.Y. NIGHT VERSION in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen war. (Abb. 08) Im Jahr 2002 erwarb das

Kunstmuseum Bonn das New York-Video und projizierte es in der Sammlung zeitgleich mit der Präsentation

zweier großformatiger Leuchtkästen mit Einzelbildern von STADT DURCH GLAS auf der Nord- und der West-

fassade des Museums. (Abb. 09)

 

STADT DURCH GLAS (MOSKAU/DÜSSELDORF/MOSKAU) entstand im Zusammenhang entstand im Zusammenhang

mit der Landespräsentation von Nordrhein-Westfalen in Moskau im Juni 2003. Der Künstler nahm die Einladung

des Landes zur Ausstellung in einer Moskauer Kunstinstitution zum Anlaß für eine neue, einstündige Videofassung

von STADT DURCH GLAS, in der Tagaufnahmen des Düsseldorf-Videos mit Tag- und Nachtaufnahmen aus Moskau

(je zwanzig Minuten) in einer Doppelprojektion kombiniert wurden. Als Kooperationspartner konnte die Staatliche

Tretjakow Galerie am Krymsky Val gewonnen werden. Kuballs Initiative fand in einer institutionell brisanten Phase

der Tretjakow Galerie statt, die der Künstler geschickt in seine Ausstellungsplanung miteinbezog. Dank des Enga-

gements des Kurators für zeitgenössische Kunst, Andrej Jerofejew, konnten neue Räume für Kuballs

Ausstellung hergerichtet werden, die seither der russischen nonkonformistischen Kunst und neuer Medienkunst

zur Verfügung stehen, die bis dahin in den Sammlungsräumen der Tretjakow keine Präsenz hatten.

Nach ihrer musealen Erstaufführung in Moskau wird dieselbe Videoarbeit nun im Schwellenbereich zwischen

der Kunstsammlung und dem Düsseldorfer Stadtraum projiziert.

 

III. Ein künstlerisches Werk, das rekapitulierend und aneignend immer wieder die ästhetischen und medi-

alen Paradigmen der Moderne befragt, legt zunächst eine Spur in die Vergangenheit, um  von dort aus sein

kritisch-aufklärerisches Potential zu entwickeln. Kuballs STADT DURCH GLAS hat seine Vorgeschichte in der

(proto-) kinematografischen Stadtwahrnehmung der Zeit um 1900. Die Videocollage spielt auf die komplexe

und sich wechselseitig bedingende Geschichte von Großstadterfahrung und künstlerischem Medieneinsatz

in der Moderne an. Die Leitmedien der Moderne – Fotografie und Film – galten in den ersten Jahrzehnten

des 20. Jahrhunderts schon aufgrund ihrer technischen Gegebenheiten und Funktionsweisen als  die Medien,

die in der Lage waren, eine der modernen Großstadt adäquate Wahrnehmung von Bewegung und Frag-

mentierung zu visualisieren.

Der Zusammenhang von Stadtwahrnehmung und kinematographischem Blick zeigt sich allerdings bereits

in den Formen der naturalistischen und expressionistischen Großstadtlyrik, die in der sprachlichen Be-

schleunigung von Stadtwahrnehmung dem späteren Eindruck dynamisch bewegter Großstadtbilder im Film

vorausging. Und auch in den Beschreibungen der Stadtwahrnehmungen im künstlich fixierten Blick durch

das Fenster des fahrenden Zuges bereitete sich das Sehen bewegter Bilder im Kino vor. Mit Hilfe des von

den Brüdern Lumière entwickelten Cinématographen, der Aufnahme-, Kopier- und Projektionsgerät in

einem war, konnten bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mehrere kurze Stadtfilme aus verschiedenen

europäischen Großstädten sowie aus New York hergestellt werden. Um den filmischen Eindruck von Bewe-

gung in der Stadt zu steigern, gingen die frühen Operateure dazu über, ihre Aufnahmegeräte auf

Straßenbahnen, Hochbahnen, Fernzüge und andere städtische Transportmittel zu montieren und so den

Cinmatographen, d.h. den Bewegungsaufschreiber selbst beweglich zu machen. Diese kinematographische

Inszenierung ergibt jenen Effekt verwischter Gegenstandskonturen in den Stadtbildern, der für die Illusion

von Geschwindigkeit maßgeblich ist.

 

In STADT DURCH GLAS kombiniert Kuball das Filmen der Großstadt durch die bewegte Videokamera mit anderen

optischen Strategien, die den Illusionismus des Mediums brechen und eine eigenständige Bildlichkeit her

vorbringen. Das Trinkglas schiebt sich wie ein optischer Filter vor das Objektiv der Kamera und rückt die

Stadt auf Distanz. STADT DURCH GLAS steht insoweit in einer langen historischen Linie von durch optische

Geräte, Filter und Prismen veränderten Bildschöpfungen – eine Linie, die von den mit Hilfe des Claude

Glases kompositionell und farblich vereinheitlichten Landschaftsgemälden des 18. Jahrhunderts bis zu den

Werken des amerikanischen Avantgardefilmers Stan Brakhage reicht, der seinen Film THE TEXT OF LIGHT (1974)

durch die verzerrende Optik eines Kristallaschenbechers aufnahm. Kuball verwendet das Trinkglas als Teil

einer mehrschichtigen optischen Versuchsanordnung aus Kamera, Projektionsapparat (Videobeamer) und

Projektionsfläche, aus der eine kalkulierte Bildstörung resultiert. Alles wird durch diese Optik gleicher

maßen bildmächtig: Menschen, Autos und Bauwerke sind beinahe ununterscheidbar. Das Glas bewirkt

einen Verlust an Perspektive und Präzision in der Gegenstandswiedergabe sowie eine Steigerung der

Lichtphänomene. Die Stadt löst sich auf in ein schillerndes Kaleidoskop von Farbschlieren und Lichtreflexen.

Unterscheidbar sind die Düsseldorf- und Moskau-Sequenzen vor allem durch ihre jeweilige Farb-

temperatur und den Tag-Nacht-Rhythmus.

 

Doch die Optik des Glases hat eine doppelte Wirkung. Sie ruft nicht nur den Eindruck der Verzerrung und

Auflösung des Stadtbildes hervor, sondern auch den umgekehrten Effekt einer Verdichtung und Neu-

fokussierung. Das einfache Trinkglas verändert nämlich die Optik derart, daß das Stadtbild selbst „augen-

förmig erscheint: eine strahlenförmige Anordnung von Lichtreflexen um eine kreisrunde Mitte. In der

Doppelprojektion blickt die Stadt durch Glas gleichsam auf den Betrachter zurück und verstrickt ihn in

einen endlosen Regress der Blicke. Mit einfachsten Mitteln bewirkt Kuball – insbesondere in den Düssel-

dorf-Partien des Videos – eine intensivierte Form der Betrachteransprache: Die Auflösung der Stadtbilder

mittels des Glases und ihre Neufokussierung als monumentales „Augenpaar“ drängt den Betrachter in eine

permanente Spiegelsituation, durch die Kuball die Frage nach den Bedingungen des Sehens und der

Konditionierung von Wahrnehmung artikuliert.

 

Eine zusätzliche Verfremdung der Stadtbilder erzielt Kuball durch die Abweichung von der Normallauf-

schaltung des Videorecorders, was eine Reduzierung der Bildfrequenz von 24 auf 12 Bilder pro Sekunde

zur Folge hat. Die durch den Fluß bzw. das Stocken des Straßenverkehrs rhythmisierte Kamerafahrt wird

durch das ruckartige Gleichmaß einer technisch reduzierten Bildfolge überlagert und gebrochen. Diese Mani-

pulation verhindert die Entstehung in sich verschmolzener Nachbilder auf der Netzhaut des Betrachters.

Eine deutlich wahrnehmbare Störung im Fluß der Bilder, ein neuer Rhythmus, ein Stakkato stellt sich ein.

Im Unterschied zu den Großstadtfilmern der Moderne, die Phänomene wie Bewegung und Geschwindigkeit

medial zu übersetzen suchten, bewirkt Kuball eine Entschleunigung des Blicks auf die Stadt. Auf diese

Weise schafft Kuball einen künstlerischen Raum zwischen der Stadtrealität und der Medienrealität, der

eine neue faszinierende Ebene des Bildlichen hervorbringt.

 

IV. STADT DURCH GLAS (MOSKAU/DÜSSELDORF/MOSKAU) ist nicht ortsspezifisch konzipiert; das Video eröffnet aber je

nach Präsentationsort unterschiedliche Kontextbezüge und damit andere Bedeutungsdimensionen. In der

Projektion im Außenbereich der Kunstsammlung zwischen Grabbe- und Paul-Klee-Platz verweist Kuballs

STADT DURCH GLAS auf eine stadträumliche Übergangszone mit ihrer Historie, ihrem Ist-Zustand und ihren

möglichen künftigen Veränderungen.

Der Projektionsflache die sogenannte Brunnenwand gegenüber vom Haupteingang der Kunstsammlung

befindet sich in einem räumlichen Schwellenbereich, die einerseits mit dem Bau und der Institution Kunst-

sammlung Nordrhein-Westfalen verbunden ist, andererseits aber auch von den angrenzenden Platzräumen

aus wahrnehmbar und insoweit Teil des urbanen Kontextes des Museums ist Die nächtlichen Lichtpunkte

in der Passage werden die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen die sich von der St Andreas

Kirche, der Kunsthalle, der Hunsrücken- und der Neustraße sowie von der Akademie und der Ratinger

Mauer der Kunstsammlung nähern. Die Möglichkeit zur künstlerischen Markierung dieses Ortes hat sowohl

stadträumliche als auch bauliche Voraussetzungen die das planerische Resultat der sechziger und

siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts sind.

 

Das Areal des heutigen Grabbeplatzes geht auf die Pläne zur Stadterweiterung von Hofbaumeister

Huschberger aus dem Jahr 1802 zurück. Es war als innerstädtische Freifläche in der Ost-West-Achse

zwischen Schloß und Hofgarten konzipiert, die allerdings durch den Bau der Kunsthalle durch Ernst Giese

im Jahr 1882 zum Hofgarten hin geschlossen wurde. Um die Sichtachse in Ost-West-Richtung wieder

herzustellen, wurde – als Ergebnis einer längeren Diskussion in den sechziger Jahren – der Neubau der

Kunsthalle 1967 an den südlichen Rand des Platzes verlegt. Die Wiederbelebung der historischen Nord-

Süd-Verbindung zwischen den beiden Teilen der Altstadt war dann das ausdrückliche Anliegen der Auslober

des Architekturwettbewerbs für den Bau der Kunstsammlung im Jahr 1975. Diese für Fußgänger begeh-

bare Achse, die das Gebäude der Kunstsammlung schneidet, nimmt eine mittelalterliche Wegführung auf

und folgt dem Verlauf der alten Stadtmauer. Der Vorgängerbau – der 1896 von Carl Hecker als Kunst-

gewerbemuseum gebaut, 1904 Bibliothek umbenutzt und 1979 abgerissen wurde – hatte diese historische

Wegführung unterbrochen. Von dem Architekten der Kunstsammlung erwartete man nicht nur die Öffnung

der Nord-Süd-Achse, sondern auch die Definition eines zweiten Platzes nördlich des Museumsgebäudes,

der durch Atelier- und Wohngebäude gefaßt werden sollte. Auch Vorschläge zu einer „Erweiterung der

Landesgalerie in fernerer Zukunft“ waren bereits Gegenstand der Ausschreibung 1975. Bekanntlich wur-

den beide Vorhaben nicht realisiert. Mit der Platzgestaltung der Architekten Dissing+Weitling entstand der

Paul-Klee-Platz als Provisorium, dessen Neukonzeption und Bebauung bis heute ausstehen.

 

Die Passage unter dem Gebäude der Kunstsammlung wurde von den dänischen Architekten nicht als bloßer

Durchgang, sondern als Erschließungszone des Museums gestaltet. Hier liegen nicht nur die Drehtür zum

Hauptgebäude, sondern auch die Eingänge der Abteilung Bildung und Kommunikation (mit dem verglasten

Schauraum) und des Restaurants Op de Eck sowie des unterirdischen Parkhauses. Die Passage ist also ein

innerstädtischer Schwellenraum, in dem unterschiedliche Funktionen zusammenkommen; entsprechend

differenziert ist auch die „Betrachterstruktur‘, die bei einer künstlerischen Intervention an diesem Ort

vorauszusetzen ist. Das Kunstpublikum mischt sich hier mit eiligen Passanten, Restaurantbesuchern,

Parkhausnutzern, Rad- und Rollerbladefahrern und mit den unbehausten Menschen, denen dieser

Transitraum als Ort des Verweilens dient. Man kann das Areal als innerstädtischen Brennpunkt be-

schreiben, in dem sich das extreme Sozialgefälle der Düsseldorfer Bevölkerung auf kleinstem Raum ablesen

läßt. Die Passage zwischen Grabbe- und Paul-Klee-Platz stellt insoweit eine komplexe Überlagerung von

„Ort“ und „Nicht-Ort‘ im Sinne Marc Augés dar. Sie ist einerseits ein geometrisch beschreibbarer Ort, an

dem sich historisch gewachsene Wege und Achsen kreuzen, ein Schnittpunkt von Relationen, Zeiten und

Gewohnheiten; es ist andererseits ein Nicht-Ort, ein Durchfahrts- und Übergangsraum ohne Identität, ein

Sammelbecken für Umschichtungen der unterschiedlichsten Art, dessen Funktionieren auf möglichst rei-

bungsfreier Signalübertragung basiert. „Dabei gilt für den Nicht-Ort geradeso wie für den Ort, daß er

niemals in reiner Gestalt existiert. ... Der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich

niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation

ständig aufs neue seine Spiegelung findet.“ (Augé) Der Nicht-/Ort zwischen Museum und Stadt bietet

insoweit die idealen Präsentationsbedingungen für ein Kunstwerk, das die „Stadt als Projektion“ (ent-)

wirft.

 

V. Für die Dauer von sechs Wochen unternimmt Kuball mit STADT DURCH GLAS (MOSKAU/DÜSSELDORF/MOSKAU) eine

symbolische Besetzung des öffentlichen Raumes zwischen Museum und Stadt. Der beschriebene Kontext

der Präsentation ist nicht Bestandteil des Werk-Textes selbst, aber das Werk interagiert mit den spezifischen

kontextuellen Gegebenheiten und nimmt sie in seine Bedeutungsstruktur auf. Diese ist durch Phänomene

der Doppelung und Spiegelung bestimmt. Die weitgehend in Lichtreflexe aufgelösten Stadtbilder setzen

ihrerseits Lichtpunkte in das nächtliche Stadtleben. Der Künstler konfrontiert den Betrachter mit „seinem“

Blick auf die Stadt, der sich als „augenförmig“ facettiertes und doppelt projiziertes Bild auf diesen rück-

wendet. Dabei installiert Kuball diskret Momente des Widerstands in den Fluß der Bilder. Sein Video

isoliert das Visuelle aus dem komplexen städtischen Erfahrungsraum und arbeitet mit dem besonderen

Potential der Bildstörung. Auflösung und Zersplitterung des städtischen Raumes werden in den sanften

Rhythmus der technisch verlangsamten Bildfolge übersetzt. Diese bewußte Entschleunigung der Bilder

dürfte für den Betrachter eine Verwechslung von STADT DURCH GLAS mit den zahlreichen anderen public screens

für Werbung und Infotainment ausschließen. Kuball schafft gleichsam eine filmische Projektion von Stadt

auf Stadt. Er setzt damit nächtliche Licht- und Ruhepunkte in das Areal zwischen Kunstsammlung und

Altstadt, die Anlaß für die gedankliche Projektion zukünftiger Entwicklungen dieses Ortes sein könnten.

Bei Tageslicht zeigt sich die Projektionswand als Leere.

 

LITERATUR

Rüdiger Recknagel: Der Grabbeplatz im städtebaulichen Zusammenhang, in: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Architektur in der Demokratie 2,

hrsg. v. Ingeborg Flagge i. A. des Ministers für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr, Bonn 1986

Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt 1994

Harro Segeberg: Von der proto-kinematographischen zur kinematographischen (Stadt-)Wahrnehmung. Texte und Filme im Zeitalter der Jahrhundertwende,

in: Ders. (Hg.): Die Mobilisierung des Auges, München 1996, S. 327-388


 

 

 

In: Mischa Kuball: Stadt durch Glas (Moskau/Düsseldorf/Moskau) City Through Glass (Moscow/Düsseldorf/Moscow). ed. K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2003.

 

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