Es gibt eine Urszene des deutschen Fernsehens, welche der Generation von Mischa Kuball und mir eine erste Ahnung vermittelte, dass leder ein Star für ein paar Sekunden werden kann, auch wenn wir damals den Namen Andy Warhol noch nie gehört hatten. Wenn es in Ilya Richters “DISCO“ dunkel wurde, wusste jeder was jetzt passiert: “Licht aus – woomm – Spot an – woomm – hier ist unser absoluter Hauptgewinner, Mandy Mustermann aus Musterhausen.“ Das absolute verlegene Pickelgesicht im kreisrunden Strahl des Scheinwerfers hatten am nächsten morgen in der Schule garantiert alle Freunde und Freundinnen gesehen. Der simple Trick, der dieses all-wöchentliche Szenario bis heute in der Erinnerung nachhallen lässt, beruht auf der Doppelung von zwei Aufmerksamkeitsfaktoren: der Spot, als Fokus im realen Raum und dazu das Fernsehauge, dessen medialer Fokus den Raum der Disco auf die ganze Bundesrepublik erweitert.
Dieses simple Prinzip um für einen Moment auf eine Person die landesweite Aufmerksamkeit zu konzentrieren, funktioniert heute nicht mehr. Das liegt zum einen an der artifizialisierten Clip-Welt des Pop-TV, zum anderen an der Multiplizierung der Programme und Kanäle, die rund um die Uhr permanent verfügbar sind. Es gibt den einen singulären Moment der Aufmerksamkeit in der heutigen medialen Redundanz nicht mehr. Statt dessen gilt immer und überall: “Die Option ist grösser als der Bedarf.“ So formuliert es Mischa Kuball auch für seine “public stage“, die über drei Wochen lang 24 Stunden pro Tag die Grundelemente für eine Aufmerksamkeits-Übertragung auf jedermann anbot: Licht-Spots, eine Bühne und eine Live-Übertragung ins World Wide Web. Würde das ausreichen, um in der heutigen medialen Vielfalt noch einen Abglanz des archaischen Gefühls von öffentlicher Aufmerksamkeit der “DISCO“ zu vermitteln? (1)
“public stage“ lässt sich als eine Versuchsanordnung beschreiben. Diese umfasst klassischer Weise drei Bereiche:
a) die Probleme, die untersucht werden sollen
b) den Aufbau der Anordnung für den Versuch
c) die Resultate, die erwarteten ebenso wie die unerwarteten.
Am einfachsten ist b), die Anordnung selbst: Ein völlig unprätentiöser Aufbau aus handels-üblichen Bühnenelementen und Scheinwerfern sowie die für Besucher vor Ort kaum sichtbare Webcam. Keinerlei plastische Gestaltungsabsicht des Künstler hat sich hier niedergeschlagen. Nach Ende des Experiments wird alles wieder abgebaut und seiner normalen Verwendung zugeführt - und nichts jenseits dieser normalen Verwendung wurde mit dem Material während “public stage“ unternommen. Das gleiche gilt für die Website, deren Gestaltung nicht von Kuball sondern der Webdesignerin Ingrid Haufe stammt.
Schon schwieriger ist a), die Fragestellung des Versuchs präzise auszumachen. Hier über-schneiden sich institutionelle und individuelle Interessen mit grundsätzlichen Aspekten der verschiedenen Wirkungsradien von Medien bzw. Kunst. Der Ausgangspunkt für die Kuratorin und Initiatorin Cornelia Wieg war ein regional-spezifischer und institutionell gebundener: Die Ausstrahlung des oft als geschlossene Festung wahrgenommenen Museums Staatliche Galerie Moritzburg in den Stadtraum zu verstärken.
Doch seit dem Düsseldorfer “Megazeichen“, das 1990 täglich zweihunderttausend Pendler von der Rheinuferstrasse aus sahen, hat sich Kuballs Umgang mit dem Faktor Öffentlichkeit verändert und er wollte dem Wunsch nach einer Aufmerksamkeitssteigerung durch eine Lichtinstallation in Halle nicht folgen. Statt dessen strebte er eine grundsätzliche Untersuchung der Faktoren von Öffentlichkeit an: Lässt sie sich in einer konkreten städtischen bzw. institutionellen Situation “herstellen“? Kann die Kombination von einer lokalen Problematik mit einem globalen Medium wie dem Internet ihre Qualität oder Quantität verändern? Oder bleibt Öffentlichkeit auch in dieser “glokalen“ Mischung nur eine Fiktion, wie es einer der Teilnehmer behauptete? (2)
Am schwierigsten sind c), die Resultate des Experiments “Public Stage“ auszumachen.
Der Versuchsaufbau erlaubt die Untersuchung der Differenz oder Interferenz oder Kongruenz zwischen zwei Ebenen der Präsentation: der realen und der medialen d.h. der Bühne und der Website. Beide haben einen universalen Anspruch: Die Bühne als “die Bretter die die Welt bedeuten“ trifft auf eine neues Medium, das schon durch den Namen “World Wide Web“ behauptet, eine globale Plattform zu sein.
Dem entspricht die Überlagerung einer Exposition - auf die Bühne, ins Rampenlicht treten; mit einer Observation - sehen ohne gesehen zu werden.
Diese Dialektik von Exposition und Observation lässt sich an zwei Phänomenen festmachen, die in den Ankündigungen und Reaktionen von Besuchern und Presse zu “public stage“ immer wieder genannt werden: Zum einen die Speakers Corner, als geschützer Freiraum der öffentlichen Rede für jedermann - und zum anderen Big Brother, als kontrollierter Zwangsraum der öffentlichen Überwachung durch Jedermann. Beide heben die Hierarchie der qualifizierten Stufung von Öffentlichkeit auf, indem sie beliebigen Menschen den Status von öffentlichen Personen verleihen. Doch weder die archaische Urform des demokratischen Rederechts an der Hydepark Ecke noch die kommerzielle Inszenierung der Macht des Banalen in 100 Tagen TV führen zu einem “herrschaftsfreien Diskurs“ wie ihn Habermas als Idealziel seines “Strukturwandels der Öffentlichkeit“ sah.
Eine solche ideale “temporäre autonome Zone“ (um einen Terminus von Hakim Bey zu verwenden) ist “public stage“ nicht geworden. Weder auf der Bühne noch via Netz ist etwas unerwartetes passiert, alles blieb im Rahmen einer von breitem Konsens getragenen kulturellen Normalität. Doch was wäre passiert, wenn etwas Unerhörtes, Radikales, Skandalöses auf der “public stage“ aufgeführt worden wäre? Vermutlich nichts. Denn die Speakers Corner zeigt, dass die unerhörtesten, radikalsten, skandalösesten Aussagen ungehört verhallen, wenn sie in einer solchen tabuisierten Zone bleiben und nicht bis in die Massenmedien vordringen.
Umgekehrt belegen die Einschaltquoten von Big Brother, dass die Medien das Banale so aufbereiten können, dass es im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Damit ist auch schon das wesentliche über die zwei Gegenmodelle von Medien-Öffentlichkeit und Kunst-Öffentlichkeit gesagt. Der Künstler ist für die Massenmedien letztlich immer der irre Prediger auf der soapbox – man lässt ihn machen, weil er in einem kulturell garantierten Freiraum agiert. (3) Ein solch doppelbödiges Ereignis wie Big Brother hingegen kehrt scheinbar das Medium Fernsehen um, indem es ausgewählte Zuschauer zu Akteuren macht und allen übrigen das Gefühl vermittelt, über ihresgleichen Macht und Kontrolle ausüben zu können. Tatsächlich ist diese Umkehrung aber eine perfide Inszenierung, um das Publikum und die Quote um so besser steuern zu können. Big Brother, das wusste schon George Orwell der in „1984“ den Terminus prägte (was seltsamerweise fast vergessen zu sein scheint) sitzt immer auf der unsichtbaren Seite des Mediums und damit am längeren Hebel. (4) Trotzdem könnte Big Brother jenseits des trivialen Personenkults - der aber für den Quotenerfolg entscheidend ist - durchaus auf ein Konzept aus der Medienkunst der 1970er Jahre zurückgehen.
Es gibt zahlreiche künstlerische Arbeiten zum Thema der Observation mittels Medien. Am bekanntesten sind vielleicht die von Bruce Nauman, in denen der Betrachter z.B. einen Raum oder Korridor mit Videokamera und Monitoren betritt (“Four Corner Piece“, “Going around the Corner Piece“, “Live-Taped Video Corridor“, alle von 1970) oder scheinbar Tiere in einem Labyrinth überwacht werden (“Learned Helplessness in Rats“, 1988). In anderen Werken betont er den Aspekt der Exposition im öffentlichen Raum, so z.B. in der Betonpassage “The Center of the Universe“ (1964/1988) die Tag und Nacht innen von gelben Strassenleuchten ausgestrahlt wird.
Alle diese Arbeiten handeln zwar von den Themen Öffentlichkeit und Medien – sie sind aber nicht Teil der massenmedialen Öffentlichkeit, sondern gelangen nur im Kontext ihrer Rolle als Kunstwerk ins öffentliche Bewusstsein. Sie handeln – wie alle Kunst – nur auf der Ebene des Symbolischen, oder besser gesagt: sie setzten exemplarische Zeichen, übernehmen aber keine faktische gesellschaftliche Funktion. Sogar einer Persönlichkeit vom Format Joseph Beuys ist als Gründungsmitglied der Grünen der Sprung auf die Bühne der Politik letztlich nicht gelungen. Auch er fand sich schliesslich in der Rolle des Manns auf der Soapbox wieder, den man reden lässt ohne ihm zuzuhören. (5)
Doch kann eine einzelne Intervention, sei es von einem Küstler oder sei es von jemand anderem, in einer Situation medialer Redundanz, in der immer die „Option grösser ist als der Bedarf“ überhaupt noch eine gesellschaftliche Wirkung erreichen? Sie kann - etwa wenn sie auf eine Veränderung der Medienlandschaft im entscheidenden Moment reagiert und ein Zeichen setzt, das für diesen Paradigmenwechsel eine Signalwirkung hat. Dies ist beispielsweise der 21-jährigen Webdesignerin Jennifer Ringley gelungen, indem sie seit 1996 ihr Privatleben aus allen Räumen ihres Appartments 24 Stunden Live ins Internet überträgt. Die Website von “Jennicam.com“ hat eine weltweite Fangemeinde von Millionen und sie wurde zum Vorbild des Big Brother Spektakels. Deshalb erfüllt Jennicam den Wunschtraum aller Avantgarde und wird konsequenterweise mittlerweile auch im Kunstkontext gezeigt (u.a. in “Fame after photography“, Museum of Modern Art, New York), obwohl sie letztlich höchstens als eine Art Brut des Internetzeitalters gelten kann.
Auch Kuballs “Megazeichen“ erreichte Hunderttausende, aber dies trug zu seiner Anerkennung als Künstler nichts bei, da er als Autor in dem Projekt völlig unsichtbar blieb. Die Reaktion des Kunstkontexts setzte bezeichnenderweise erst nach Ende des Projekts ein, angestossen von einem Artikeln in einer Kunstzeitschrift. (6) Das zeigt die grundlegend verschiedenen ökonomischen Prinzipien der Kunstwelt und der Medienwelt.
Wo für die Medien die Zuschauer-Quote das alles bestimmende Mass liefert, da diese die Höhe der Werbeeinnahmen bestimmt, liegt der Wert eines Kunstwerks gerade in dessen Exklusivität. Diese Exklusivität bestimmt meistens die geistige Haltung der inhaltlichen Evaluationsprozesse und mit Sicherheit immer den finanziellen Marktwerkt (sic), wie sich an der künstlichen Rarifizierung von Reproduktionsmedien wie z.B. Foto und Video durch limitierte Auflagen ablesen lässt.
Die ungelöste Frage von vielen künstlerischen Interventionen in oder mit Medien bzw. im öffentlichen Raum - die so auch an “public stage“ gestellt wurde – lautet: Sollen sie eine faktische Funktion übernehmen oder ein exemplarisches Zeichen setzen? Hier spitzt sich das Dilemma aller Kunst seit Anbruch der Moderne zu, die zwar auf ihre Autonomie pocht, aber zugleich nach realer gesellschaftlicher Wirkung strebt. Schon im Sozialismus resultierte dies in der Forderung, das die Kunst bisher die Welt nur immer neu dargestellt habe, es aber nun darauf ankomme, sie zu verändern. Das mit diesem Argument ein doktrinärer Realismus an die Stelle des modernen “Formalismus“ gesetzt wurde, belegt besonders drastisch das Missverständnis einer einfachen Gleichsetzung von realer und symbolischer Ebene der Kunst.
Die Kunst der letzten Dekade versucht – vielleicht nicht zufällig nach Ende des sozialistischen Modells – dem Dilemma einer wechselseitigen Exklusion von nur funktionaler oder nur symbolischer Bedeutung zu entkommen. Ihre Etikettierung als “Dienstleistungskunst“ ist bestimmt nicht glücklich, aber symptomatisch. Damit werden die Grenzen zwischen der ehemals “angewandten“ und der angeblich “freien“ Kunst fliessend. Doch entgegen dem damit zum Teil einhergehenden Trend zu einer glatten “Design-Kunst“ sucht Mischa Kuball die Reibung mit dem sogenannten realen Leben. Wenn er versucht die “entweder - oder“ Differenz von symbolischer und realer Ebene in ein “sowohl – als auch“ zu überführen scheut er nicht vor einer Berührung mit sozialen Randbereichen zurück.
Für ‘Private Light / Public Light“ zur Biennale São Paulo ist er 3500 Kilometer durch die Stadt gefahren und hat ca. 500 Menschen aus 72 Familien getroffen, viele davon in den Favellas, die mit ihm für die Dauer der Ausstellung ihre Lampe gegen sein Modell tauschten. Viele von ihnen waren deshalb erstmals auf der Biennale Ausstellung und nur 17 wollten ihre Lampe danach wieder zurück haben. Das eine offene Form der Partizipation wie “public stage“, die auf die persönliche Überzeugungskraft des Künstlers verzichten muss, das Risiko eines “weder - noch“ enthält, war Teil der Ausgangsbedingungen für die Versuchsanordnung. (7)
Anmerkungen
(1) Kuballs Projekt Sprach Platz Sprache (1999) für den Innenhof des Gauforums in Weimar behandelt ebenfalls die Relation von Individuum und Masse.
Es hätte mit dem vergleichbaren Mittel eines Spot-Scheinwerfers eine imaginäre Bühne auf historisch kontaminiertem Boden geschaffen - wenn es nicht aus Angst vor möglichen rechtsradikalen Akteuren, die diese Bühne real nutzen, verboten worden wäre.
(2) Diese These stammt von Joachim Pentzel und wurde untermauert durch eine Aktion, in der er auf der “public stage“ still für sich Texte von Habermas, Sennet, Luhmann las.
Ihre besondere Bedeutung liegt darin, dass er von Berufs wegen zuständig ist für Öffentlichkeitsarbeit.
(3) Die Künstlerin Christine Hill führt diese Rolle in ihren Soapbox Lectures auf exemplarische Weise vor.
(4) Interessanterweise verboten die geheim geholten Verträge den Big Brother Teilnehmern jegliche Nutzung von Schreibinstrumenten - sogar die Mitnahme von zu Schreibzwecken verwendbaren Schminkstiften! (vgl. den Abdruck in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Juni 2000) Mit diesem Verbot einer persönlichen Erinnerungs-Aufzeichung (sic) wird in der Tat Orwells bedrohliche Vison (sic) zu Wirklichkeit: In seinem Terror Staat erreicht die von Big Brother verkörperte Diktatur die Zerstörung jedes indviduellen (sic) Bewusstseins oder Widerstands der Einwohner durch die ständige Umschreibung der Geschichte.
(5) Einige haben aber doch zugehört und ihre Schlüsse daraus gezogen, darunter Mischa Kuball, der noch vor seiner Entscheidung für eine Künstlerlaufbahn als Wäschefahrer bei Familie Beuys in Diskussionen über “Akademiestudium oder nicht“ verstrickt wurde.
(6) Johannes Stahl, Im Sog der Megazeichen, in: Kunstforum International, Bd. 110, 1990.
(7) Vgl. dazu Mischa Kuballs eigene mail im Kommentar-Forum der Website von Public Stage vom 9. 6. 2000: “Liebe Nutzerlnnen der public stage, zum ersten mal in der Arbeit, bereite ich einen Aktionsort vor, an dem ich selber nicht agiere; mich interessiert, wie sich in einer Gesellschaft das Interesse an SELBSTVERÖFFENTLICHUNG entwickelt und ggfs. darstellbar ist! Die Nähe zur freien Rede eines ‘speaker corner‘s‘ ist gewünscht und beabsichtigt, und hat in London eine fest verankerte Tradition; in den Wirren des politischen Deutschlands um 1918/19 herum gehörte die Strasse den politischen Bekundungen, doch nach ein/zwei Diktaturen hat sich das Verhältnis zur Strasse verschoben, fast ist die politische Präsenz unsichtbar; Ausnahmen gibt es natürlich...
public stage will dieses Verhältnis darstellen helfen und versteht sich als ein öffentliches Experiment – mit offenem Ausgang!“
In: Mischa Kuball: 'public stage': project documentation Moritzburg Halle/Saale Germany 2000/2001", ed.: Staatliche Galerie Moritzburg Halle, Landeskunstmuseum Sachsen-Anhalt, Halle Salon Verlag, Köln 2001 , p. 19-25.
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