Interview mit Thorsten Nolting und Mischa Kuball



DIAKONIE IN DÜSSELDORF SHELTER

 

KUNST ALS PRODUKTIVE STÖRUNG. EIN GESPRÄCH

MIT THORSTEN NOLTING UND MISCHA KUBALL.

 

VON RITA KERSTING

 

Thorsten, Du hast den Raum für Obdachlose auf der Ratinger Straße initiiert und

hast dazu Mischa Kuball eingeladen, der seit über 20 Jahren raumbezogene

Projekte und ortsspezifische Arbeiten macht. Erstens: Was erwartest Du Dir

von Kunst an diesem Ort und zweitens: Warum hast Du Mischa Kuball einge-

laden?

 

Thorsten Nolting: Ich fange mal mit zweitens an. Mischa Kuball habe ich ein-

geladen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass er sozial- und raumbezogen

arbeiten kann. Das konnte ich bereits im Jahr 2000 bei dem Projekt „ein fens-

ter“* in der Johanneskirche erfahren. Die Zusammenarbeit hat gezeigt, dass

er Kontexte mitdenkt, dass er Ideen und Themen aktiv in die Arbeit einschließt,

die das Soziale und die Prozesse, die vor Ort stattfinden, betreffen. Und dass er

diese auch strukturiert einfließen lässt. Und zu Deiner ersten Frage: Ein Kunst-

projekt in einer Obdachlosen-Einrichtung zu initiieren war sicher etwas unge-

wöhnlich, aber es hat damit zu tun, dass ich gerne mit Künstlern zusammenarbeite,

weil ich finde, dass dadurch ein anderer Blick entsteht. Im Shelter ging es mir ganz

generell um den Typus Sozialarbeiter, der wie jeder aus anderen Berufsbildern auch

natürlich vorgefertigte Denkmuster hat, wie Dinge abzulaufen haben. Und das sollte

von Anfang an gestört werden. Das war der Auftrag – eine Störung zu initiieren,

aber natürlich im produktiven Sinne. Störung nicht als eine Provokation, die zum

Scheitern führt, sondern die erreicht, dass es eine Unterbrechung gibt an bestimmten

Punkten, an denen man normalerweise einfach weitermachen würde. Weil man den

Jargon kennt, weil es Regeln gibt, weil Räume sind, wie sie sind, und man sie

akzeptieren muss – dass es da einfach Unterbrechungen gibt, Pausen, Impulse, durch

die anderes möglich wird. Zum anderen ging es auch darum, wie man die Einrich-

tung prägen kann, unter dem Gesichtspunkt, etwas Neues zu machen für eine

Gruppe, die stark in der Öffentlichkeit steht, was aber eigentlich gar nicht gewollt

ist. Das ist ein großes Thema, weil die Existenz von Wohnungslosen mitten in der

Gesellschaft stattfindet, auf den Plätzen, auf den Straßen, und gerade in Düsseldorf

ist das ja auch ein extrem heikles Thema. Die Fronten sind ja: Betont man das Thema

besonders oder versteckt man die Menschen? Uns ging es auch darum, in diesem

Kontext einen Weg zu finden.

 

* IM RANMEN DES PROJEKTES MEIN FENSTER“ HAT MISCHA KUBALL 2002 EINE SKULPTURALE

STRUKTUR, EINEN RAHMEN FÜR DIE DÜSSEL DORFER JOHANNESKIRCHE ERARBEITET, IN DEN

GEMEINDEGLIEDER UND ANDERE BESUCHER IHRE BILDER HINEINSETZEN KONNTEN.

EIN FENSTER, SALON VERLAG

 

 

ELEMENTARER LEBENSRAUM

 

Mischa, von welchem Ansatzpunkt bist Du für Deine Arbeit im Shelter ausge-

gangen und was waren Deine ersten Ideen?

 

Mischa Kuball: Es gibt Formen der Existenz und dazu gehören auch die Woh-

nungslosen, die an sich schon Störbilder sind innerhalb der Stadt. In Düsseldorf

wurde damals extrem viel darüber diskutiert, dass man Menschen, die obdachlos

sind, eigentlich nicht auf der Straße haben und ständig sehen will. Es sollte Re-

gionen, wie z.B. die Königsallee geben, in denen ein Platzverbot per se gegen

Wohnungslose ausgesprochen werden konnte. In diesen Gedanken hin ein habe

ich meine erste Idee entwickelt, die in Form einer Skulptur das Tun in der Ein-

richtung Shelter auf die Straße zieht. Mit beheizten Bänken und einer Lichtinstal-

lation, die von innen nach außen führt (eine Doppelhelix, eine Art Lebenslinie),

aus einer sozialen Anspannung hinaus in den Alltag. Und das war von vornherein

mit allen Problemen behaftet, die man sich vorstellen kann. Es hat nicht funktioniert.

 

Thorsten Nolting: An dieser Stelle möchte ich das Vorgehen beschreiben:

Ich habe Mischa in die Einrichtung geschickt. Er hat seinen Entwurf nicht mir vor-

gestellt, nicht dem, der scheinbar das Ganze durchsetzen kann, sondern denen, die in

der Einrichtung arbeiten sollten. Meine Idee hatte im Grunde sehr viel von dem, was

Bazon Brock versucht hat - die Supervision durch Künstler. Der Entwurf ist also

letztlich  daran gescheitert, dass die Sozialarbeiter der Meinung waren, die Ein-

richtung würde mit dieser Skulptur nicht funktionieren. Weil sie Dinge nach außen

trägt, die unserem Konzept widersprechen. Weil die künstlerische Arbeit die Öffent-

lichkeit sucht, vor der wir ja gerade einen Schutz aufbauen wollen. Das heißt, wir

müssen die Menschen aus dieser Öffentlichkeit nehmen, der sie ständig ausgesetzt

sind. Es wird ja immer so interpretiert, als würden sie sich selber gern der Öffentlich-

keit aussetzen. Nur in den meisten Fällen ist es natürlich so, dass sie keinen anderen

Raum als diesen haben und ein Zufluchtsraum ist in einer solchen Situation etwas

Elementares. Mischa hat verschiedene Wege gesucht, sich dieser Ausgangslage zu

nähern und hat unterschiedliche Vorstöße gemacht. Der erste war massiv, mit dieser

Skulptur, das hat dem Konzept der Einrichtung nicht stand gehalten. Er hat dann

versucht, vom inhaltlichen Konzept der Einrichtung aus weiterzugehen.

 

KRISTALLE UND EIN ROLLENSPRUNG

 

Ich habe den Eindruck, dass durch die lange Dauer und das sehr Ungewöhnliche

Eurer Zusammenarbeit einerseits die Möglichkeit zum Experiment, auf der anderen

Seite aber auch die Notwendigkeit zum Kompromiss größer ist als bei anderen

Projekten. Wie ist es weitergegangen, nachdem diese Skulptur - die ja auch eine

formale Lösung war, trotz all den inhaltlichen Konnotationen und auch den

praktischen Möglichkeiten zur Benutzung – gescheitert ist? Die künstlerischen

Aktivitäten, die Du dann angeregt und teilweise auch selber durchgeführt hast,

sind ganz unterschiedlicher Natur, eigentlich eine Collage von Veranstaltungen.

Du hast Dich also entschlossen, Kunst als sozialen Prozess zu verstehen?

 

Mischa Kuball: Ich hatte vorher noch nie in einem Umfeld gearbeitet, in dem

das Verhältnis von Mensch zu Mensch unter einem ganz bestimmten Blickwinkel

konzeptuell schon so dezidiert vorgefasst ist. Mit solchen Bedingungen hatte ich

noch nie gearbeitet. Ich kenne solche Klammern, hatte aber keine Erfahrung damit

und die erste Erfahrung war dann ja auch die des Scheiterns. Die Idee für meinen

ersten Entwurf zerfiel gegenüber der Realisierbarkeit des konzeptuellen Ansatzes

der Einrichtung, der aus der diakonischen Arbeit entstand und das war erstmal eine

unversöhnliche Situation. Ich habe dann aber schnell gemerkt, dass vielleicht ganz

andere Dinge wichtig werden könnten und habe daraufhin mehrere Aspekte wie einen

Kristall oder wie Scherben zusammengefügt. Eine Scherbe, die mich interessiert hat

war zum Beispiel, was die Menschen machen, wenn sie an diesem Ort sind und mit

anderen Menschen kommunizieren wollen. Dieses Thema habe ich dann mit der

Entwicklung einer Postkarte (3) unterstützt, mit der es plötzlich die Möglichkeit gab,

Botschaften auszusenden und eine Adresse zu haben. Es gab wieder die Möglichkeit,

jemandem zu antworten – das fand ich interessant. Und als Motiv bot sich eine Situation

an, die ich in New York beobachtet habe. Aus dieser Fotoserie (4) habe ich zwei

Arbeiten gestiftet, um auch eine ästhetische Setzung zu machen. Eine weitere Scherbe

war das Thema Körper, woraus die Idee zur Entwicklung eines Rucksacks entstand.

Aus der Idee zum Rucksack ist die einer Tasche geworden und daraus schließlich der

Shelterbag (2). Oder die Kochaktion (5), bei der es auch um das Thema Körper ging,

um Selbstverantwortung.

 

Du bist bei den verschiedenen Aktionen dabei gewesen, als es in die Praxis ging. Du

bist aber auch Teil eines runden Tisches gewesen, der sich das alles ausgedacht hat.

Die Frage ist, wie siehst Du Deine Rolle als Künstler in diesem Prozess?

 

Mischa Kuball: Ich glaube, ich bin da zum Teil richtig verschmolzen, um es mal

vorsichtig zu formulieren. Verschmolzen in dem Sinne, dass ich einen Rollensprung

gemacht habe. Mir war es bewusst, dass ich in der einen Runde konzeptuell arbeite,

in der wir über Strategien künstlerischer Intervention nachdenken und uns überlegen,

wie das für diese und andere Einrichtungen sein kann — das ist ja mit Thorsten auch

immer noch der Makro-Blick auf die Diakonie insgesamt - und in der anderen Runde

eher praxisorientiert, also Ideen kommuniziere und auch umsetze. Und wenn ich vor

Ort in der Einrichtung war, ging es wieder um ganz andere Dinge. Da ging es um eine

direkte soziale Bindung, da ging es darum, ob mir die Mitarbeiter oder die Wohnungslosen

vertrauen können. Ich habe im Rahmen dieses Prozesses vielleicht auch Aussagen zu

Themen gemacht, die gar nicht ins künstlerische Feld gehören. Natürlich war das auch

mit einem Rollensprung verbunden, aber ich muss sagen, das Wichtige für mich war, dass

es in erster Linie das Vertrauen der Einrichtung in mich ausdrückte, mich auch in die

anderen Prozesse einzubeziehen. Ich wurde nicht nur angesprochen, wenn es um

gestalterische oder künstlerische Fragen ging, sondern ich wurde auch in die tagtägliche

Problematik eingeweiht und bekam ein Bild, eine Vorstellung davon, wie die Arbeit dort

eigentlich funktioniert. Ich habe gemerkt, dass es überhaupt nichts bringt, wenn ich mir

dieses oder jenes (völlig autonom) überlege, weil das hier gar nicht greifen kann. Ich

musste genau zuhören, wie die Struktur ist, denn die Struktur lässt dieses oder jenes hier

nicht passieren, erlaubt gewisse Dinge einfach nicht

 

GELUNGENES SCHEITERN

Heißt das, dass das Experiment Kunst im Shelter nicht immer zu 100 Prozent

zu der künstlerischen Qualität führte, die Ihr Euch erhofft hattet?

 

Thorsten Nolting: Es gibt eine Veranstaltung, die Kochaktion, die man hier

vielleicht erwähnen kann. Das war eine Idee, die von der Überlegung ausging,

was die Besucher des Shelter dort eigentlich machen, inwiefern sie sich aktiv

bzw. passiv verhalten. Gibt es eine Beteiligung oder kommen sie nur dort hin

und lassen sich bedienen? Das war der Punkt, an dem Mischa einstieg und eine

Gemeinschaftsaktion initiierte, nämlich zusammen eine Mahlzeit vorzubereiten.

Letztendlich standen dann 50 Leute im Shelter, die sich anguckten, wie Mischa

mit drei oder vier anderen kochte. Sie haben sich unglaublich aufgeregt, weil das

Essen noch nicht fertig war, haben unser Personal beschimpft und sagten, dass

wir wohl wahnsinnig seien, hier so einen Mist zu veranstalten, wo sie doch zum

Essen hierher kommen. Die sich hier offenbarende Anspruchshaltung von Ob-

dachlosen zeigt doch was über unsere Gesellschaft, finde ich. Die Obdachlosen

scheinen nicht in der Lage, eine halbe Stunde auf ihr Essen zu warten, geschweige

denn, es mit vor zubereiten. Das heißt, der offene Ansatz für die künstlerischen

Aktionen muss damit leben, dass sich etwas anderes zeigt, als man es sich

vielleicht erhofft hatte, dass man diese Menschen nämlich beteiligt und dass das

Leben dann schöner wird. Das Konzept ist nicht auf gegangen. Und ich finde es

eigentlich auch gut, dass man mit einem Risiko arbeitet, das so etwas zeigt. Dieses

Eintreten des Unerwarteten und in diesem Falle Asozialen innerhalb dieses sozialen

Prozesses empfinde ich als Höhepunkt der künstlerischen Arbeit.

 

Mischa Kuball: Ja, das ist es, obwohl der mich natürlich nicht nur zufrieden

zurücklässt. Ich muss sagen, dass ich mit meiner eigenen Naivität, die ja

gleichzusetzen ist mit meiner Unerfahrenheit, ziemlich aufgeschlagen bin. Ich

habe wirklich geglaubt, dass es möglich ist, durch verschiedene Maßnahmen

eine Sensibilisierung zu schaffen. Eine Sensibilisierung von allen Seiten. Von

Teilen der Gesellschaft den Wohnungslosen gegenüber, aber auch von Woh-

nungslosen der Gesellschaft gegenüber. Und das ist ganz spärlich, ganz punktu-

ell, wenn überhaupt, eingetreten.

 

Thorsten Nolting: Das klingt so nach Hegel: Man muss durch das Negative

durch, und muss dann aber wieder irgendwo ankommen, wo man für den anderen

trotzdem etwas Gutes tun will. Und das ist die Schwierigkeit, wenn man vorder-

gründig etwas Gutes tun will, kippt man hinten über bei der echten Begegnung.

Und die echte Begegnung wird ja in der Regel vermieden, weil immer etwas

zwischengeschaltet ist: Sozialarbeiter, Spendenquittung oder was auch immer.

 

Mischa Kuball: Das gab es ja bei mir nicht. Ich hatte keinen Filter.

 

Thorsten Nolting: Und gerade deswegen finde ich es gut, dass es Dir gelungen

ist, da durchzugehen.

 

Mischa Kuball: Gelungenes Scheitern.

 

VERABREDUNG ZWISCHEN VIELEN

 

Habt ihr schon über weitere Projekte gesprochen?

 

Mischa Kuball: Haben wir noch nicht. Thorsten hat mir ja nicht nur vertraut,

weil er mich da hineingelassen hat, sondern er hat auch eine Erwartung formu-

liert. Ich sollte anschieben und Impulse geben, weil das meinem Naturell ent-

spricht, meinem Wesen, aber eben auch meiner künstlerischen Haltung, auf

Leute zuzugehen und meine Energie mit dem, was vor Ort ist, zu verbinden.

Die Idee war, dass daraus etwas entstehen müsste, was die Sozialarbeiter dann

selber wollen und auch selber weiter betreiben. Dass sie ein Gespür dafür

entwickeln, dass sich da etwas machen lässt, das aus einem anderen Material

ist als das aus den sozialpädagogischen Feldern. Ein wesentliches Ergebnis ist,

dass die Mitarbeiter sich vorstellen können, diesen Prozess mit einem anderen

Künstler oder einer anderen Künstlerin fortzusetzen. Das gibt es als Idee. Aber

es gibt noch keine Aussage darüber, wer das sein könnte.

 

Ich möchte den Kreis schließen. Was müsste der Künstler mitbringen – welche

Kunst, welche Eigenschaften und Fähigkeiten - um diesen Prozess fortzusetzen?

 

Mischa Kuball: Ich glaube, es sind Teilqualitäten. Was auf jeden Fall wichtig

ist, ist Kompromissfähigkeit, die wird man brauchen. Ich habe mich im ständigen

Abgleich empfunden. Im Nachhinein kann ich selbstkritisch sagen, dass ich durch-

aus noch radikaler und energischer hätte rangehen können. Ich war auch zögerlich,

weil ich unsicher war, das gebe ich zu. In künstlerischer Hinsicht braucht es vielleicht

eher eine Haltung, die interventionistisch ist. Die mehr am Prozess interessiert ist als

am Werk. Für mich ist in diesem Fall der Prozess das Werk. Mit den Teilergebnis-

sen, die hier schon angesprochen wurden, und vielleicht auch mit welchen, die noch

nicht angesprochen wurden, die jetzt noch gar nicht richtig sichtbar sind. Ich habe

mich sehr gespürt zum Beispiel. Ich habe gemerkt, dass ich meine Kunstklammer,

die ich zwanzig Jahre lang mit Wissen und Erfahrung aufgepudert habe, hier nicht

einsetzen konnte. Das interessiert keinen, ob ich international bekannt bin, die fragen

sich nur, was hat das denn mit uns zu tun? Und ich habe mich immer gefragt, was

hat das mit mir zu tun? Das war die viel basisorientiertere existentialistischere

Grundfrage. Und die Antwort war, wenn das da nicht ankommt, kann die Frage

nicht gestellt werden, kann das Projekt nicht passieren. Das war nicht die Verab-

redung zwischen einer Kuratorin und einem künstlerischen Projekt, wo traditionelle

Vereinbarungen gültig sind, sondern es war eine Verabredung zwischen sehr vielen

Akteuren – und das war eine ganz neue, schwierige Herausforderung.

 

WERTGESCHÄTZT

 

Thorsten Nolting: Für mich hat Mischa schon einige ideale Eigenschaften mit

gebracht als Künstler, nämlich konzeptionsstark zu sein, aber auch skulptural

denken zu können. Man muss sich ja vorsteilen, diese Arbeit spielt in einem Raum

mit Menschen und da wird man sich immer auf den Raum beziehen oder – und das

fand ich hier gut – eben auf den Körper. Der Aktionsradius ist dadurch beschränkt.

Es gibt natürlich Verwandtschaft mit anderen Bereichen, aber ich glaube, es braucht

diese Doppelung. Man muss wirklich skulptural denken können, zum Beispiel eben

auch den Körper des Obdachlosen mit hineindenken oder sich dem annähern können.

Wenn ein Künstler in einen solchen Bereich geht, der hochsensibel ist, zum einen für

die Personen selber, die da arbeiten und Fehler machen können, zum anderen aber auch

für die Menschen, die da hingehen, die ganz bestimmte Dinge erwarten – ausgesprochen

oder heimlich – muss er natürlich entweder sensibel genug sein, Grenzen zu erkennen

oder stark genug sein, über Grenzen hinweg zu gehen. Diese beiden Typen sehe ich,

die dort möglich sind. Prozess ist sicher richtig, aber eben auch Punkte zu finden in einem

Prozess, an denen man ihn anhält. Sagen zu können: „Stopp, hier gibt es jetzt einen Zwi-

schenstand, das ist meine Arbeit“, und dann nochmal zu entscheiden: Geht sie weiter

oder ist sie an der Stelle vorbei. Was für mich die Arbeit von Mischa im Shelter aus-

gezeichnet hat, war, dass er eigentlich nie die Wertschätzung preisgegeben hat, obwohl

es an verschiedenen Stellen hätte passieren können. Die Wertschätzung für die Mitar-

beitenden und die Wertschätzung für die Wohnungslosen. Sowohl im Bereich der

Sozialarbeiter, wenn immer wieder Bedenken geäußert wurden, weil man nur die vielen

Anforderungen vor sich sah und darüber nachdachte, wie man das alles schaffen soll,

als auch bei den Wohnungslosen, die dann Ellenbogen zeigten und sagten. „Das ist mein

Raum.“ Das fand ich schon enorm und das ist vielleicht auch eine der Bedingungen in

einem solchen Zusammenhang, um als Künstler eine Wirkung zu entfalten und nicht

marginal zu werden und nur für den Vorstand mal eben eine Arbeit zu machen. Das war

hier das Wesentliche.

 

VOR ALLEM ZEIT

 

Könnte man sich vorstellen, dass es jemanden gibt, der auf dem Fundament, das Mischa

entwickelt hat, weiter Aktionen macht, der weiter nach dem Scherbenprinzip arbeitet?

Oder könnte es auch jemanden geben, der etwas ganz anderes macht. Was wäre Dir

denn lieber?

 

Thorsten Nolting: Ich muss ehrlich sagen, für mich ist es schwer, weil die Einrichtung

sehr stark mit Mischa verbunden ist. Insofern würde ich jetzt erstmal eine Pause machen.

Denn das, was wir merken, ist glaube ich, dass man Zeit braucht, um überhaupt Dinge nach-

vollziehen zu können. Das ist generell etwas, was ich mit vielem erlebe, also mit der Kunst,

aber auch mit anderer Gestaltung, die ich ins Unternehmen Diakonie einbringe. Es ist ganz

häufig so, dass die Mitarbeitenden keine Kategorien haben, um damit umzugehen, und dann

darauf angewiesen sind, von außen Einschätzungen zu bekommen. Und plötzlich bekommt

das Ganze Schwung durch die Resonanz, die sie erfahren, dann werden sie selbstsicherer

im Umgang und fangen an, die Dinge zu fördern und als eigene zu behandeln. Es gibt

vielfach eine Unsicherheit bei den Mitarbeitern, die sich dazwischen bewegen und wenn

es dann angenommen wird, wird es plötzlich ganz stark und ganz wichtig, dann wird es zur

eigenen Sache. Und ich glaube, der Prozess ist noch nicht abgeschlossen und vielleicht ist

es auch so, dass Mischa raus muss, um Luft zu lassen, damit diese Aneignung passiert.

 

Ich glaube, dass die Aneignung, von der Du sprichst, ein wichtiger Faktor ist und etwas, das

ich bei anderen Künstlern nicht kenne. Es gibt natürlich Künstlergruppen, die ganz eindeutig

Kunst als Sozialarbeit verstehen, Künstler, die für Randgruppen der Gesellschaft einen

Arzt-Bus zur Verfügung stellen und das als ihre künstlerische Arbeit sehen oder für Migranten

ein Kino aufbauen, usw. – Aktionen, die einmal initiiert, dann auch ohne die Künstler hoffentlich

weitergeführt werden. Hier jedoch hatte ich immer wieder den Gedanken, dass Mischa nicht

nur eine Idee hat, die verwirklicht und in die Tat umgesetzt wird, sondern dass er an einer

langfristigen Öffnung gearbeitet hat. Mischa, Du hast meines Erachtens nicht, wie Du sagst,

Scherben zusammengesetzt, sondern umgekehrt, etwas Ganzes zerschlagen und dadurch

Möglichkeiten aufgezeigt, breiter über das Leben oder die Arbeit im Shelter nachzudenken

und die Wahrnehmung und auch den Tatendrang bei denen zu erweitern, mit denen Du

zusammengearbeitet hast.

 

MISCHA KUBALL, KONZEPTKÜNSTLER UND PROFESSOR AN DER KUNSTNOCHSCHULE FÜR

MEDIEN KÖLN

 

THORSTEN NOLTING, DIAKONIEPFARRER UND VORSTANDSVORSITZENDER DER DIAKONIE IN

DÜSSELDORF

 

 

(1) Fragebogen-, Fotoaktion

Im Rahmen einer Fragebogenaktion im Shelter und im Umfeld der Besucher wurden Gegenstände ermittelt, die wohnungslose Menschen immer bei sich haben oder bei sich haben möchten. Aus diesen ermittelten Gegenständen wurden in einem zweiten Schritt anhand einer Fotoaktion (siehe Umschlagfoto) die zehn Dinge recherchiert, die von den meisten Teilnehmern als wichtig erachtet wurden und sich als unentbehrliche Produkte für wohnungslose Menschen herauskristallisierten.

(2) Shelterbags

Shelterbags sind Taschen, die für das Shelter entwickelt wurden. Die wetterfesten Taschen passen zum Alltag der wohnungslosen Menschen, sind aber für jedermann erhältlich. Mit der Aktion werden die Aspekte des Nützlichen (etwas in der Tasche am Körper zu führen) mit einem Auftrag des verantwortlichen Handelns kombiniert. Jeder, der einen Shelter-Bag kauft, finanziert damit im Rahmen eines Partnerschaftskonzepts eine Weitere für einen wohnungslosen Menschen. Die Idee ist, über die identischen Taschen ein imaginäres Netzt zu spannen, das eindeutige Zuordnungen aufbricht.

(3)+(4) Postkarte, Fotografie

Mischa Kuball stiftete zwei Fotoarbeiten, die 1997 in New York entstanden, für die Räumlichkeiten des Shelter. Für die Besucher des Shelter wurde aus einem dieser Motive eine Postkarte entwickelt, die nach der Beschriftung durch die Gäste von der Einrichtung Shelter frankiert wird und es ihnen ermöglicht, Nachrichten zu versenden und mit dem Shelter als Absender eine Antowrtadresse zu haben.

(5) Kochaktion

Kochen mit Wohnungslosen für Wohnungslose. Ziel der Kochaktion war es, die Besucher des Shelter dazu zu aktivieren, sich ein Mittagessen unter Anleitung und mit Hilfe des Profikochs Ingo Meyer-Berhorn selbst zuzubereiten.

(6) Salon Shelter

Musik trifft Sozialarbeit, Sozialarbeit trifft Musik. Unter dem Namen "Salon Shelter" verbanden sich im Sommer 2006 zwei Orte, die unabhängig voneinander in unmittelbarer Nachbarschaft liegen: der Salon des Amateurs in der Kunsthalle Düsseldorf und das Shelter. Gemeinsam luden sie zum Benefiz-Konzert für die Wohnungslosen-Arbeit ein.

 

 

In:  Diakonie: Die Funktion der Kunst in einer sozialen Einrichtung: Gespräche über einen Prozess. Ed.: Diakonie Düsseldorf, Düsseldorf 2008, S. 4-11.

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