Von der Nachhaltigkeit ephemerer Bilder
Gedanken zu Mischa Kuballs Installation Schleudertrauma.
Mischa Kuball hat in seiner raumbezogenen Ausstellung im Kunstverein
Ruhr mit äußerst sparsamen Mitteln gearbeitet. Im Grunde
sind es nur zwei Videoprojektionen, die permanent auf den beiden
Längswänden des etwa 55m2 großen Raumes zu sehen sind. Sonst
nichts. Rechnet man noch die notwendigen Video-Beamer hinzu,
haben wir es hier mit einer sehr „minimalistischen“, aufs Wesent-
lichste reduzierten Videoinstallation zu tun – in einem ansonsten
leeren Raum.
Video-Projektionen sind zudem Ephemera. Reine Licht-Bilder,
welche wegen ihrer medienspezifischen Flüchtigkeit und Immate-
rialität von vornherein ein anderes Sehen herausfordern als es etwa
Gemälde oder klassische Skulpturen schon wegen ihrer Materialität
und Permanenz tun. Schaltet man den Beamer aus und die Decken-
beleuchtung an, bleiben am Ende nur noch die weißen Wände des
Raumes und nichts erinnert mehr an das soeben noch Gesehene.
Einerseits mag eine solche lakonische Feststellung wie ein unwichti-
ger Allgemeinplatz klingen, gehört doch der Umgang mit Fernse-
hen, Film und Video, ebenso wie das Ein- und Ausschalten von
elektrischem Licht eigentlich zu den selbstverständlichsten Grund-
erfahrungen unserer Zivilisation. Andererseits erscheint ein solcher
Prolog jedoch sinnvoll und angebracht, wenn man erfährt, daß
Mischa Kuball in seiner Arbeit immer wieder vorzugsweise
reines Licht, aber auch Dia- oder Videoprojektionen gezielt und
ohne jedes Beiwerk einsetzt. Das von seinem Wesen her Immateri-
ellste und Flüchtigste also hat er zur Grundlage seiner Arbeit
gemacht. Licht aber erhellt, kennzeichnet, hebt hervor, ohne dasje-
nige, was es trifft, in seiner Substanz zu verändern. Und in der Tat
geht es Kuball in seiner Arbeit nicht um massive malerische oder
skulpturale Eingriffe, sondern um in der Regel nur temporäre
Markierungen und Hervorhebungen eines bestimmten Ortes, eines
Gebäudes oder der vorgegebenen räumlichen Situation. Man kann
also davon ausgehen, daß der Einsatz von Video auch im Falle der
Essener Installation Schleudertrauma von einem Umgang mit die-
sem Medium zeugt, der trotz oder gerade wegen der hier so ein
dringlich veranschaulichten Flüchtigkeit der Bilder nichts mit dem
alltäglichen Abspielen einer Videokassette oder dem beliebigen
Umschalten von Fernsehprogrammen mit Hilfe einer Fernbedie-
nung zu tun hat.
Was also ist zu sehen: Kuball arbeitet bei Schleudertrauma mit den
Projektionen zweier großer Bildfelder. Das, was sich darin auf sehr
bewegte Weise abspielt, scheint auf den ersten Blick ganz und gar
der Vorstellung des sprichwörtlich Ephemeren, Flüchtigen und
Immateriellen eines Videobildes zu entsprechen. Man glaubt, an
einer visuellen Karussellfahrt beteiligt zu sein – so schnell ziehen
kaum zu verfolgende Kameraschwenks am Betrachterauge vorbei.
Die derart aufgenommenen Bilder können somit nur verzerrt und
verschwommen wahrgenommen werden. Auch das Gefühl, aus
einem fahrenden Zug heraus nach draußen zu blicken, stellt sich
bei diesen fensterartigen Ausblicken bisweilen ein. Abwechselnd in
vertikaler und horizontaler Bewegungsfolge sieht man jeweils etwa
dreiminütige Sequenzen schneller Kamerafahrten, welche offen
sichtlich im Innenraum der Alten Synagoge aber auch außen, direkt
vor ihrem Hauptportal, entstanden sind. In ihrem Aufbau und inne-
ren Rhythmus gleichen sich die linke und die rechte Bildprojektion,
doch laufen sie ständig gegen- und nebeneinander und zudem zeitversetzt,
so daß es keinen Parallel- oder Synchronlauf wirklich
identischer Aufnahmen gibt. Nach einer gewissen Zeit der Betrach-
tung (die man sich schon nehmen sollte) erkennt man: Alles dies
ist konzipiert, durchdacht, gewollt, aufs Wesentliche reduziert und
zusammengestellt und kaum etwas davon scheint dem Zufall über
lassen worden zu sein.
Wie aber und aus welcher inneren Notwendigkeit heraus sind diese
merkwüdigen „geschleuderten“ Bilder entstanden? In welcher
Beziehung stehen sie zum Ort, zum Raum und zum gesamten
Gebäude? Kuball hat die Kamera mit ausgestreckter Hand, vom
Körper so weit wie möglich entfernt, in schneller Bewegung regelrecht
um sich selbst rotieren lassen. Sein Arm konnte so zum
Radius und seine Schulter zum Mittelpunkt besagter Kreisbewegung
werden. Selbst wenn es auf den ersten Blick in diesen Bildern nicht
erkennbar ist, erhalten die gesamten Aufnahmen hierdurch einen
mittelbaren (weil letztlich visuell und gedanklich nachvollzieh-
baren) Körperbezug. Ihre Bewegungen, ihr Rhythmus haben im
leiblichen Aktionsradius des Künstlers ihre Entsprechungen. Die
Dauer der einzelnen Sequenzen entspricht in etwa der maximalen
Belastbarkeit des durch die Kamera beschwerten Arms und letztlich
auch des Kugelgelenks in der Schulter. Durch den so nach außen
verlagerten Schwerpunkt erhält die kreisende Kamerafahrt zudem
auf natürliche Weise eine gewisse Stabilität und Präzision.
Doch an dieser Stelle sollte nach dem Motiv einer derartig kreisen
den, sozusagen vom Körper ausgehenden „Bildfindung“ gefragt
werden. Geht es Kuball hier um die Erweiterung einer Vorstellung
einer „Subjektiven Kamera“, um Unmittelbarkeit, Unverfälschtheit,
Körperbezogenheit als solchen? Wenn es so wäre, dann entspräche
dies einer Haltung, wie sie in der Malerei eines Jackson Pollock vor
fünfzig Jahren noch volle Gültigkeit beanspruchen durfte, jedoch
mit der konzeptuellen Denk- und Vorgehensweise eines Mischa
Kuball eigentlich nicht zu vereinbaren ist. Auch ein vermittelter und
durch das Medium gleichsam gebrochener Körperbezug wie beim
Videokünstler Gary Hill (nämlich die Welt aus der Hand- oder
Fußperspektive wahrzunehmen) kann Kuball nicht unterstellt werden.
Wo also liegt die innere Notwendigkeit dieser mit der Fliehkraft des
rotierenden Armes gesteuerten Aufnahmen? Worin der Bezug zum
Kontext des Raumes, des Gebäudes und des gesamten Geschehens
und welche besonderen ästhetischen Erfahrungen und letztlich
auch Erkenntnisse können mit dieser offensichtlich durchdachten
und durchstrukturierten Visualisierung gemacht werden?
Zunächst gilt es festzuhalten: Mischa Kuball setzte sich (wie vor ihm
andere Künstler auch) zunächst mit dem Ausstellungsraum und sei-
nen architektonischen Besonderheiten auseinander. Im Grunde ist
der Ausstellungsraum des Kunstvereins von seinem Wesen her ein
„White Cube“, ein neutraler Raum mit weißen Wänden, der aller-
dings in seiner Mitte die besagte π-förmige Pfeilerkonstruktion
aufweist. Dieses markante Architekturdetail ist unübersehbar und
für die hier Ausstellenden immer sowohl Anregung als auch Ein-
schränkung zugleich. Läßt sich jemand – ganz gleich welches
Kunstkonzept oder Genre er dabei vertritt – auf diesen Raum ein,
hat er mit diesem merkwürdigen Doppelpfeiler zu rechnen. Und die
schlichte Tatsache, daß dieser nicht zu ignorieren ist, formuliert
wie von selbst die Forderung, ihn zu integrieren. Und wenn man
erfährt, an welcher Steile genau im Untergeschoß des alten Gebäu-
des sich dieser aus statischen Gründen einfach notwendige Pfeiler
befindet, wird klar, dass der „Genius Loci“ nicht nur im zentralen
Sakralraum, sondern auch hier spürbar und sichtbar wird - voraus
gesetzt, man versteht die architektonischen Grundlagen wie Zeichen
zu lesen. Dieser kleine, im Sinne eines „White Cube“ abgeschirmte
und aus Gründen der Kunstpräsentation gleichsam neutralisierte
Raum im Untergeschoß der Alten Synagoge ist somit nicht nur sta-
tisch, sondern auch organisch mit allen anderen Teilen des Gebäu-
des verbunden. Für Kuball war diese Erkenntnis ausschlaggebend
und Motivation genug, sich nicht nur mit der faktisch vorhandenen
Architektur und der heutigen Nutzung des Gebäudes, sondern auch
mit der wechselvollen Geschichte des jüdischen Gotteshauses und
seiner Lage im Innenstadtbereich der Ruhrmetropole zu beschäf-
tigen. Er stellte gedankliche Verbindungen her zwischen dem Innen
und dem Außen, dem Oben und Unten, dem Raum und den
Räumen, den Wänden und Mauern, dem lastenden Thoraschrein
mit seinen meterdicken Wänden und der ihn tragenden Unterkon-
struktion. Die innere Kohärenz der einzelnen Gebäudeteile, die
Verbindungen durch die Treppenhäuser, fand er ebenso bemer-
kenswert, wie die zentrale innerstädtische Lage des Gesamtkomplexes.
Bezeichnenderweise befindet sich die Synagoge
in direkter Nähe zur Essener Münsterkirche, zum Rathaus, und zur
„Konsumzone“ mit ihren (in fast allen deutschen Großstädten
gleichförmigen) Ladenketten und Kaufhäusern. Ihm fiel auf, daß
die Außenarchitektur aus dem Jahr 1913 bezeichnenderweise
sowohl wilhelminischen als auch orientalischen Charakter hat und
daß das mit grün oxydiertem Kupfer gedeckte Dach inmitten des zu
Stoßzeiten tosenden Verkehrs wie ein rundes ruhendes Pendant
zum benachbarten im gleichen Material gedeckten rechtwinkeligen
Dach des Münsters wirkt.
Kuballs Auseinandersetzung mit diesem speziellen Ort und seinen
architektonischen Vorgaben geschieht also nicht isoliert, ästhetisch
abgehoben, oder beschränkt auf rein formale Aspekte – so immens
wichtig am Ende seine strenge formale Entscheidung im Ausstel-
lungsraum des Kunstvereins auch sein mag. Er begreift die Alte
Synagoge, den Ort des Geschehens, als historisch gewachsen, als
Gebäude, dessen Vergangenheit sich noch heute in vielen Details
offenbart. In solchen Zusammenhängen gedacht steht das zentral
gelegene Haus also nicht nur für die Geschichte der Juden in Essen,
sondern für Essener Geschichte insgesamt, die ohne Juden gar
nicht denkbar wäre. Wer an so zentraler Stelle ein solch großes
Gotteshaus bauen kann, kann nicht unbedeutend sein. Und in der
Tat kündet das monumentale Gebäude aus grauem Kalkstein mit
seiner weithin sichtbaren grünen Kuppel noch immer von dieser
Bedeutung. Diese Wahrnehmungs- und Reflexionsvorgänge verdich-
ten sich in Mischa Kuballs Arbeit. Sie werden zur Motivation und
letztlich zum Motiv, die raumbezogene Ausstellung im Kunstverein
Ruhr über ihre konkrete Verortung im Untergeschoß der Alten
Synagoge hinausweisen zu lassen, sie gleichsam gedanklich vertikal
nach oben in den ehemaligen Sakralraum und horizontal weit über
die dicken Mauern hinaus in die Essener Innenstadt dringen zu
lassen. Was erinnernd und gedanklich projizierend möglich und
notwendig erscheint, erhält sein ästhetisch-formales Äquivalent in
einem „Projektionsraum“ im wahrsten und damit doppelten Sinne
des Wortes.
Kuballs Entscheidung für die minimalistische Vorgabe einer
Doppelprojektion ermöglicht und begünstigt geradezu ein solches
„über den Raum Hinausgehen“ des eintretenden Betrachters. Nor-
male, das heißt vor allem kognitive Wahrnehmung kommt hier im
direktesten Wortsinn „ins Schleudern“ – man weiß im ersten
Moment nicht was gezeigt wird, wo es sich befindet und auch nicht
warum man es in dieser Weise zu sehen bekommt. Statt eindeutiger
visueller Orientierung im Hier und Jetzt erleben wir eine vom
Künstler bewußt inszenierte Desorientierung, ein Anschleudern
gegen die gewohnte Verortung und Bestätigung. Weil die schnellen
Kamerabewegungen zudem noch in umgekehrter Uhrzeigerrichtung
ablaufen, haben wir es hier auch mit einem (durchaus lesbaren)
Anschleudern gegen die gewohnte Leserichtung (des Abendlandes)
zu tun, ein Schleudern gegen die verordnete und bestehende
Weltordnung sozusagen. Natürlich ist und bleibt dies alles ein
ästhetischer Gegenentwurf, der das, was ist, ästhetisch, symbolisch,
gedanklich aus den Angeln hebt. Doch was anderes sollte Kunst
sonst „leisten“, als gültige Gegenbilder zum Bestehenden zu entwer-
fen?
Auch die hier sichtbare Verzerrung der Realität dient in ihrer Struk-
tur und ihrem Charakter diesem ästhetischen Gegenentwurf: Indem
ich das Haus, in welchem ich mich augenblicklich befinde, und
seine Umgebung gedehnt, verzerrt und zerstückelt in rasenden
Bewegungen erlebe, werde ich gezwungen, es mir gedanklich
neu zu rekonstruieren und zu ordnen. Indem die geschnittenen
horizontalen und vertikalen Kreisbewegungen der Kamera neben und
hintereinander zu sehen sind, de-konstruieren sie das Haus als
ganzes, stimulieren sie mich als Betrachter, es anders als in bislang
gewohnter Weise und vor allem in erweiterten Zusammenhängen
zu sehen. Sie veranlassen mich, wie gesagt, Verbindungen herzu
stellen zwischen dem Innen und dem Außen, dem Oben und dem
Unten und am Ende auch zwischen dem Damals und dem Jetzt.
Die formale radikale Reduktion und Konzentration Kuballs begün-
stigt zudem noch eine auf den Betrachter selbst zu beziehende
ästhetische Erfahrung. Nicht nur bei Schleudertrauma, sondern
eigentlich in Kuballs gesamter Arbeit ist ein Betrachter gefragt,
der das, was er sieht, nicht einfach „auf sich wirken“ läßt, sondern
der von Beginn an bereit ist, auch seinen Verstand einzuschalten.
Hier geht es darum, sich im Raum zu bewegen und sich gleichsam
vom Raum selbst bewegen zu lassen, ihn als Teil eines architekto-
nischen Ganzen, und sich selbst darin als einen anderen integra-
len und unabdingbaren, weil zur Reflexion fähigen Teil zu be-
greifen. Jemand, der sich mit Sinnen und Verstand der schnellen,
pulsierenden Bilderfolge von Schleudertrauma aussetzt, versetzt
sich am Ende selbst in die Lage, die Beweg- und Hintergründe für
die besondere künstlerische Vorgehensweise nachzuvollziehen.
Eine solche Wahrnehmung aber ist nicht mit „interesselosem Wohl
gefallen“ zu verwechseln, sondern sie ist selbst reflektierter
Bestandteil des ganzen Unternehmens. Ich sehe letztlich die flüchti
gen Bilder nicht für sich, sondern ich begreife mich dabei als
Sehenden. Ich beginne über die Bedingungen der Möglichkeiten
meiner Wahrnehmungen nachzudenken und begreife mich (mit
samt meinem eigenen „Ins-Schleudern-Kommen“) als Bestandteil
meiner ästhetischen Erfahrungen. Ich vermag letztlich auch die
Veränderungen in meinem Wahrnehmen und Denken zu registrie-
ren, die sich nur durch die Einlassung auf diese sehr reduzierte
Videoinstallation ergeben haben.
Mischa Kuball zielt in seiner Videoarbeit eben auf eine besondere
ästhetische Erfahrung ab, welche sich trotz oder gerade wegen der
Flüchtigkeit seiner rasenden Kamerafahrten vor allem durch ihre
Reflexivität und Nachhaltigkeit auszeichnet.
In: Mischa Kuball: Schleudertrauma / Slings of Memory. ed.: Kunstverein Ruhr, Essen 2006, (ISBN: 3-9803846-7-5), S. 43-50.