11. Juni 1999. Die Busfahrt von Bottrop nach Essen dauerte nicht
sehr lange. Ich starrte auf die trübe Landschaft zwischen den
beiden Städten. Das graue Wetter paßte zu ihrer Monotonie. Gleich
wohl war ich gespannt auf meinen ersten Besuch im Folkwang
Museum, dem vorrangigen Ziel einer der zahlreichen Kunstreise-
routen, die ich seit Jahrzehnten ausgearbeitet habe. Der Augenblick
der Erfüllung kam rasch näher. Besuche bedeutender Museums-
sammlungen und historischer Orte haben die moralische Ambi-
valenz, die ich empfinde, wenn ich in Deutschland unterwegs bin,
immer gemildert. Zumindest für diese Momente ist die Kunst in der
Lage, mich die belastete Vergangenheit dieses Landes und meine
Gründe, aus denen ich dort bin, vergessen zu lassen.
Die urbane Architektur wirkte vertraut, als der Bus die Industrie-
stadt erreichte, die so typisch ist für Deutschlands praktische, lang-
weilige Architektur des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Welt-
krieg. Plötzlich erhob sich links von mir ein großes Gebäude. Trotz
seiner imposanten Proportionen hatte es einen gewissen Charme.
Doch es erschien hier völlig deplaziert. Dieses historische Rustika-
mauerwerk stand wie eine Wunde in der Wildnis der Nachkriegs
moderne. Was mochte dieses Bauwerk, dieses monumentale Frag-
ment einer vergessenen Epoche darstellen? Als ich auf die andere
Seite des Busses ging, um dort durch das Fenster zu sehen, erkann-
te ich, daß dieses Gebäude der restaurierte Rest der 1913 erbauten
großen Essener Synagoge war. Der architektonische Charakter des
Baus und seine Lage innerhalb der Stadt, wie sie nach dem Krieg
wiederaufgebaut worden war, erschien wenig sinnfällig. Gebaut war
er im Jugendstil, hatte aber kaum etwas von der Leichtigkeit und
Anmut, die ich normalerweise mit dieser Richtung verbinde. Seine
Schwerfälligkeit erinnerte an einen frühen Renaissance-Palast,
errichtet aus schweren Steinblöcken, um Angriffen zu widerste-
hen. Hatten die Erbauer und Auftraggeber dieser großartigen und
eleganten Synagoge vorhergesehen, daß sie sich einige Jahrzehnte
später gegen Angriffe - sowohl von Deutschen als auch von den Alli-
ierten – würde verteidigen müssen?
Zielstrebig setzte ich meinen Weg fort und verbrachte mehrere
Stunden damit, die wunderschön installierten Sammlungen des
Folkwang Museums zu genießen. Doch die ganze Zeit über drang
das Bild der alten Essener Synagoge immer wieder in mein Bewußt-
sein. Der Stil dieses Bauwerks schien in seiner gegenwärtigen urba-
nen Umgebung absurd und die Tatsache, daß das attraktive Gebäu-
de der Zerstörung, der so große Teile der Stadt zum Opfer gefallen
waren, widerstanden hatte, gaben ihm paradoxerweise den Anstrich
einer städtischen Ruine. Die Bilder – und ihre Widersprüchlichkeit –
ließen mir keine Ruhe. Wie diametral entgegengesetzt waren sie
dem aussagestarken Kunstwerk, das ich merkwürdigerweise immer
für das Symbol für den Holocaust in Essen gehalten hatte, nämlich
Joseph Beuys bemerkenswert bewegenden, bewußt schwach gehal-
tenen Versuch, die Wunden des Krieges und des Massensterbens zu
heilen. In einem Spiel freien Assoziierens, das meinem damaligen
mentalen Zustand sehr entsprach, hatte ich den Titel von Beuys
Skulptur, KZ = Essen, 1963, als Hinweis sowohl auf das Essen im
allgemeinen als auch auf eine spezielle Stadt interpretiert. Mit all
diesen widersprüchlichen Bildern und Bedeutungen im Kopf
beschloß ich, auf meinem Weg zurück nach Bottrop an der Synago-
ge Halt zu machen.
Ich betrat das Gebäude dieses restaurierten Gotteshauses, um mir
das Innere der Synagoge anzusehen sowie eine Ausstellung
über das jüdische Leben im Vorkriegs-Essen, die im Rundgang um
den Thoraschrein installiert war. Die Ausstellung zeigte die
die Geschichte schien nur allzu vertraut. Das habe ich alles schon
gehört, dachte ich. Aber wie konnte ich, ein amerikanischer Jude
deutsch-jüdischer Abstammung, derart blasphemische Gedanken
haben? Bin ich durch diese Wiederholungen bereits abgestumpft
gegenüber der Geschichte? Ist das nicht die Lehre, die wir weiterge-
ben müssen? Ist das nicht eine wesentliche Chronik, die heutige
und zukünftige Generationen, deutsche und amerikanische, lernen
müssen?
Sehr viel stärker als die Ausstellung berührte mich jedoch die
Leere des Thoraschreins. Die Thorarollen, die er einst enthalten
hatte, waren nicht mehr vorhanden. Bei aller Geschichte der Esse-
ner Juden: der zentrale Text des Judaismus, die Quelle und der
Grundstein des viertausend Jahre alten Glaubens fehlte. Dieses
Fehlen sagte für mich mehr aus als all die Fotografien und wohldurchdacht
zusammengestellten Erläuterungen zur Geschichte der
Essener Juden. Das war die Metapher, die nachklang: die Traurig-
keit der Stille, die Klangfülle der Leere. Das Nichts, das Fehlen war
schmerzlich. Darin lag die größere moralische Lektion. Wie könnte
man daraus Kapital schlagen?
Ein paar Tage später stellte ich durch Zufall fest, daß im Unterge-
schoß der Synagoge ein Kunstverein sein Domizil hatte und daß
Mischa Kuball, ein Künstler, den ich kannte, dort in Kürze ausstel-
len sollte. Ich hatte in der Synagoge beziehungsweise der
Ausstellung kein Schild gesehen, das auf die Existenz einer weiteren
kulturellen Einrichtung hingewiesen hätte, die ich, hätte ich davon
gewußt, natürlich ebenfalls besucht hätte. Mehrere Monate später
hatte ich Gelegenheit, wieder nach Essen zu fahren, und so
besuchte ich schließlich den Kunstverein Ruhr. Der Ausstellungs-
raum ist ein nahezu perfekter „White Cube“, dessen Vollkommen-
heit nur durch zwei aus statischen Gründen in der Mitte des Raums
plazierte Pfeiler beeinträchtigt wird, die das Gewicht des leeren
Thoraschreins im Stockwerk darüber tragen - eine der Architektur
von der Geschichte aufgezwungene Ironie. Der objektive Charakter
des „White Cube“ als Ausstellungsraum ist in den Nachkriegsjahren
zur favorisierten Form der Präsentation von Kunst geworden. Hier
sind Leere, Objektivität und emotionale Zurückhaltung zur bevorzugten
Weise geworden, in der wir Kunst betrachten. In diesem Fall
gilt architektonische Leere als positiv. Kontext und Geschichte wer
den vermieden. Die inhaltliche und historische Objektivität der Aus-
stellungen im Jüdischen Museum in Essen hält Metaphern und
Kunst fern.
Mischa Kuball ist in der fünfzigjährigen Geschichte des Kunstver-
eins der erste Künstler, der versucht hat, die Schranke zwischen
der geschichtsträchtigen Architektur oben und dem kühlen, heuti-
gen Raum unten zu durchbrechen. Sein Ausstellungsprojekt
Schleudertrauma umfasst – sichtbar und metaphorisch – Videoma-
terial, das er im Innern der restaurierten Synagoge und auf den
umliegenden Straßen aufgenommen hat. Dabei sind seine Aufnah-
men weit davon entfernt, eine objektive Ansicht des Synagogeninneren
oder des Ortes zu geben. Vielmehr wirft er die laufende
Kamera in die Luft und läßt sie dann an seiner Seite schwingen,
um die vertikalen und horizontalen Koordinaten des Innen- und
des Außenraums abzustecken. Das Video zeichnet die energischen
und absichtlich ruckartigen Bewegungen des Künstlers auf, die im
scheinbar kühlen Ausstellungsraum projiziert eine Art Desorientie-
rungsempfindung hervorrufen. Betrachter erfahren körperlich
und visuell ein Bedrängtwerden. Kuballs schwindelig machendes
Video liefert keine klare Neufestlegung der architektonischen und
geographischen Daten der Synagoge, es zeichnet vielmehr erneut
das physische Trauma auf, das sowohl Synagoge als auch Stadt
erlebt haben, die verlorenen Leben, die Hinterbliebenen und den
Schatten von Auschwitz. Außerdem spielt Kuballs Installation auf
das Mißverhältnis zwischen der Synagoge und ihrem Standort an
und hält so die Erinnerung an jene Unruhen, an jene historische
Zerstörung lebendig. Ähnlich meiner Lesart von Beuys KZ =
Essen hat auch der Titel Schleudertrauma eine doppelte Bedeu-
tung, und zwar eine physische und eine psychische, eine buch-
stäbliche und eine sinnbildliche. Die physische kann offensichtlich
nicht ohne ihr psychisches Gegenstück erfahren werden. Der
Schwindel zwingt uns als Betrachter, das Trauma wiederzuerleben.
Die Desorientierung geht uns unter die Haut, läßt unser Bewußt-
sein sich in Aufruhr verlieren. Sie öffnet die Wunden der
Geschichte und der Erinnerung, die das Gebäude heute symbo-
lisiert.
Neben den Verbindungen zur Geschichte, zum Raum und zur Archi-
tektur gibt es in Mischa Kuballs Installation jedoch auch zahllose
künstlerische Bezüge, nicht zuletzt den Angriff auf die kühle, oft
widersprüchliche Unantastbarkeit des „White Cube“. In der Tat
haben seit Anfang der siebziger Jahre unzählige Künstler diese „hei-
lige“ Idee vom Ausstellungsraum reflektiert. Kuball jedoch verstärkt
– man könnte auch sagen: unterminiert – bestimmte, für die Kon-
zeptkunst und die Earth Art typische zeitgenössische Strategien. Als
Erbe der Konzeptkunst entmaterialisiert Schleudertrauma den Aus-
stellungsraum. Indem Kuball mit Hilfe des Videos die Wände einkleidet,
läßt er sie scheinbar „schmelzen“. Gleichzeitig verkehrt er
durch beharrliches Verdrängen eines Ortes und seiner Restitution
als Videoinstallation eine der Standardstrategien der Earth Art, die
darin besteht, die Arbeit nach draußen auf die Landschaft zu proji-
zieren. Kuball projiziert statt dessen die innere Architektur und den
städtischen Raum (das Außen) zurück auf die Wände des Ausstel-
lungsraums. Außerdem wendet er mit der Aktionskunst verbundene
Konzepte an, die mit der Ausführung von Kunst zu tun haben und
die nach allgemeiner Auffassung mit dem amerikanischen Abstrakten
Expressionisten Jackson Pollock begonnen haben (1). Tatsächlich erin-
nern einige von Kuballs Körperbewegungen bei seiner Kameraführung
an die Art, in der Pollock Farbe schleuderte. Die Anfänge der Per-
formance sollten jedoch wohl eher den Aktionen Pollocks zuge-
schrieben werden, wie sie der aus Essen stammende Hans Namuth
in seinen Dokumentarfilmen und -fotografien festgehalten hat (2). Was
das Thema angeht, so hat Kuballs Verfahren einiges mit Joseph
Beuys‘ Herangehensweise an das Trauma des Zweiten Weltkrieges
und Auschwitz gemeinsam. KZ = Essen soll laut Beuys „nicht eine
Beschreibung der Ereignisse in dem Lager, sondern eine des Inhalts
und der Bedeutung von Katastrophe“ sein. Er spricht von seinem
Versuch, einen „homöopathischen Heilungsprozeß“ in Gang zu set-
zen (3). Auch Kuball vermeidet offensichtlich eine Schilderung jener
Ereignisse. Doch sein Schleudertrauma läuft sowohl Beuys‘ Hei-
lungsabsichten als auch der hermetischen Natur der Vitrinen des
älteren Künstlers zuwider. Die physischen und psychischen Aspekte
des Traumas, das Kuball präsentiert, öffnen Wunden, statt sie zu ver-
binden.
Wir sind gezwungen, körperliches Unbehagen zu ertragen,
während wir uns von der Art und Weise, in der Kuballs Filmbilder
sich sowohl um den Raum als auch um unsere Vorstellungskraft
legen, verführen lassen. Ein solches erneutes Sich-Einschreiben
von Angst und Trauma mag in der Tat der einzige Weg sein, in
überzeugender Weise von heute aus auf die schändliche Vergan-
genheit hinzuweisen.
Dem Kulturkritiker Eric Santner zufolge ist der einzige Weg, sich
gegen Faschismus auszusprechen, die geschichtlichen Verletzungen
(wie sie hier in die Überreste der Essener Synagoge eingeschrieben
sind) offen zu halten. (4)
Kuballs ästhetisch subtile, aber physisch kraftvolle Anspielung auf
die Traumata der tragischen Vergangenheit Essens und auf den Ver-
fall der einst blühenden jüdischen Gemeinde dieser Stadt ist in
Kunst eingebrannte Geschichte. Sie weigert sich, eine einfache
moralische Lehre zu präsentieren. Tatsächlich bietet sie überhaupt
keine an. Solange man der künstlerischen Verführung der Installati-
on erliegt, muß man ihren psychologischen und physischen Härten
standhalten. Sowohl literarisch als auch visuell fällt Kuballs Heran-
gehensweise unter das, was Sidra Ezrahi mit dem Begriff der dyna-
mischen – im Gegensatz zur statischen - Aneignung von Geschichte
bezeichnet hat, und als solche betrachtet sie – wie Santner – die
Konfrontation mit der Geschichte, oder den Affront, den sie dar
stellt, als eine überzeugendere Methode, die Erinnerung lebendig
zu halten (5).
In künstlerischer Hinsicht entspricht Kuballs Schleudertrauma
auch dem, was Ernst van Alphen den „Holocaust-Effekt“ genannt
hat. Van Alphens Analyse ähnlicher künstlerischer Strategien zufolge
wird in diesen Arbeiten „der Holocaust nicht erneut dargestellt,
sondern vielmehr präsentiert und neuinszeniert“. (6)
Kuballs Arbeit befindet sich am Schnittpunkt von Geschichte
und Kunst, öffentlicher Erinnerung und persönlichem Schock.
Schleudertrauma präsentiert das Dilemma der heutigen deutschen
Gesellschaft, die permanent mit ihrer Vergangenheit bombardiert
wird. Sowohl der Historiker Saul Friedlander als auch der Schrift-
steller Bernhardt Schlink beschreiben die deutlich erkennbare
Umstrittenheit und zunehmende Ausweitung des Holocaust-Diskur-
ses in Deutschland. Sie halten es für unmöglich, das Trauma der
jüngeren Geschichte zu beenden, und Friedlander vergleicht dieses
Phänomen mit einer „in sich selbst zurückschnellenden Spirale“ (7),
eine den körperlichen Manipulationen von Mischa Kuballs Schleu-
dertrauma bemerkenswert ähnliche Metapher. Wachsamkeit
gegenüber dem Vergessen erfordert offensichtlich eine standhafte
Haltung gegenüber einfachen Lösungen, gegenüber historischen
und moralischen Botschaften, die häufig nur allzu aufrichtig
erscheinen mögen. Und sie fordert uns, sowohl Historiker als auch
Künstler, auf, die Erinnerung lebendig zu halten. Die geschlossene
Tür zwischen dem Jüdischen Museum in Essen und dem Kunstver-
ein Ruhr, den beiden Institutionen, die sich denselben geschichts-
trächtigen Raum teilen, läßt sich mit Beuys‘ optimistischem „Ver-
band“ vergleichen. Diese Tür zu öffnen, könnte einem aufreißen
alter Wunden gleichkommen. Gleichwohl könnte es einen Dialog
zwischen den beiden höchst unvollkommenen Disziplinen
Geschichte und Kunst in Gang setzen und es dem Betrachter ermög-
lichen, von ihren jeweiligen Verdiensten zu profitieren.
Ins Deutsche übertragen von Brigitte Kalthoff
(1) Paul Schimmel: Leap into the Void: Performance and the objects, in: Russell
Ferguson (Hrsg.): Out of Actions: Between Performance aud the Object 1949-1979,
Ausst.-Kat. The Museum of Coutemporary Art, Los Angeles, New York (Thames & Hudson)
1998, S. 18-20
(2) Pepe Karmel: Pollock at Work: The Films mut Photographs of Hans Namuth, in: Kirk
Varnedoe with Pepe Karmel: Jackson Pollock, New York (Harry N. Abrams) 1998, S. 98
(3) Caroline Tisdall: Joseph Beuys, Ausst.-Kat. The Solomon R. Guggenheim Museum,
New York 1979, S. 21
(4) Eric L Santner: The Trouble with Hitler: Postwar German Aesthetics and the Legacy of
Fascism, in: New German Critique 57 (Herbst 1992), S. 21-24.
(5) Sidra de Koven Ezrahi: Reprsenting Auschwitz, in: History & Memory, Jg. 7, Nr. 2
(Herbst/Winter 1996), S. 122
(6) Ernst van Alphen: Caught by History: Holocaust Effects in Contemporary Art, Literature,
and Theory, Stanford (Stanford University Press) 1997, S. 10
(7) Saul Friedlander: Trauma, Memory, and Transference, in: Geoffrey Hartman (Hrsg.):
Holocaust Remembrance, Oxford (Blackwell Publishers) 1993, S. 255; Bernhard Schlink: The
Reader, NewYork 1997, S. 148