Projekte im urbanen Raum. Es gehe ihm nicht darum, den öffentli-
chen Raum mit Kunst zu möblieren, betont Mischa Kuball vor dem
Hintergrund der 1999 realisierten Aktion greenlight in Montevideo. (1)
Mit seinen Aktionen im öffentlichen Raum zielt er vielmehr
daraufhin, urbane Wirklichkeiten temporär durch künstlerische
Interventionen zu verändern.
So verwandelte er 1990 das Mannesmann-Hochhaus in Düsseldorf
sechs Wochen lang in eine Lichtskulptur, reflektierte 1992 mit
Projektionen geometrischer Lichtzeichen den Denkmalstatus des
Dessauer Bauhauses und rückte zwei Jahre später die von innen
grell beleuchtete Synagoge in Stommeln ins Bewußtsein der durch
das Licht überblendeten Umgebung (2). 1998 initierte er mit seinem
Beitrag zur Biennale in São Paulo Private Light/Public Light eine
Austauschaktion standardisierter Lampen mit Leuchtkörpern aus
privaten Haushalten (3). Im einstigen Zentrum jüdischen Lebens in
Montevideo, im Barrio Reus, markierte er 1999 verlassene Häuser
mit grünen 100-Watt-Baulampen.
Es sind historisch und sozial aufgeladene Umwelten, auf die sich
Kuball mit seinen temporären Aktionen einläßt. Er initiiert Aus-
tauschprozesse. Seine Reflexion der Alten Synagoge in Essen setzt
diesen künstlerischen Dialog mit geschichtlich besetzten, öffentli-
chen Räumen fort.
Die Alte Synagoge in Essen. Ein Ort musealisierter Erinnerung.
1908 schrieb die prosperierende jüdische Gemeinde in Essen einen
Wettbewerb aus. Vis à vis des Essener Münster, auf einem zentral
gelegenen Grundstück am damaligen Steeler Tor, sollte eine
Synagoge mit Plätzen für 1400 Gemeindemitglieder entstehen.
Die städtebauliche Planung zielte daraufhin, die jüdische Gemeinde
in die Stadt zu integrieren. Den ersten Preis gewann der Architekt
Edmund Körner. Körner, der in den 1920er Jahren öffentliche
Gebäude wie beispielsweise die Essener Börse sowie Privathäuser
im Bewußtsein des Neuen Bauens errichtete, entwarf einen rnonu-
mentalen, von vier Ecktürmen flankierten Kuppelbau. 1913 feierte
die Alte Synagoge ihre Einweihung, 25 Jahre später, am 9. Novem-
ber 1938, wurde der jüdische Sakralbau in der Reichspogromnacht
in Brand gesetzt.
Während des Zweiten Weltkrieges dienten die Kellerräume des
ausgebrannten Gebäudes als Luftschutzbunker. Das Bauwerk selbst
überstand relativ unbeschadet die Kriegszeit. So wurde die Alte
Synagoge im Nachkriegsdeutschland zu einem Ort des geschichtli-
chen Eingedenkens. 1949 wurde auf dem Treppenaufgang ein
Steinsarg platziert. Eine Inschrift spricht von den „Essener Opfern
des Völkermordes“, die „ihr Leben lassen mußten“ (4). In den 1950er
Jahren wurde eine zweite Inschrift angebracht: Sie bezeichnet das
Gebäude als „stummen Zeugen“ des „Geschehens“ (5). Dem Vorschlag
der jüdischen Gemeinde, die Synagoge als Erinnerungsstätte zu
nutzten, begegnete die Stadt Essen, die das Haus 1959 erwarb,
zunächst mit anderen Plänen. Sie zog eine Zwischendecke ein und
nutzte die Synagoge als Ausstellungsort für Industriedesign. Erst als
ein Kurzschluß dazu führte, daß das Haus Industrieform, wie das
Gebäude damals genannt wurde, 1979 erneut ausbrannte, wurde
1980 erstmals öffentlich darüber nachgedacht, aus der Alten Syna-
goge eine Mahn- und Gedenkstätte zu machen. Die Renovierungen
geschahen nun im Bewußtsein einer historisch notwendigen Erin-
nerungsarbeit. 1980 fand hier die Ausstellung „Widerstand und
Verfolgung in Essen 1933-1945“ statt.
Erst in den Jahren 1986 bis 1988 wurde der Innenraum rekonstruiert.
Der von Körner entworfene Hauptraum sollte wieder erfahrbar werden.
Zugleich wandelte sich die Funktion: die Alte Synagoge wird heute
Der Ausstellungsraum des Kunstverein Ruhr befindet sich unterhalb
des seiner Funktion enthobenen Thoraschreins. Hier stellt sich
Mischa Kuball mit seiner Videoinstallation Schleudertrauma der
Mahn- und Gedenkstätte. Nicht sein ganz persönlicher Blick
spiegelt die Form des kollektiven Eingedenkens. Er überantwortet
die Reflexion des historisch besetzten Ortes seiner Videokamera.
(Re)konstruktionen der Erinnerung. Wie läßt sich künstlerisch eine
bereits im Museum rekonstruierte geschichtliche Erfahrung
reflektieren? Oder, anders gesagt: Wie läßt sich eine geschichtliche
Konstruktion in eine ästhetische verwandeln? Auf diese Frage gibt es
freilich nicht nur eine Antwort. Wie eine musealisierte historische
Erfahrung künstlerisch transformiert werden kann, hängt von der
Haltung des Künstlers ab, der sich dieser Aufgabe stellt.
Die Art und Weise, wie in der Alten Synagoge die leidvolle Vergan-
genheit inszeniert und die traumatischen Erfahrungen (re)konstru-
iert werden, zeigt, wie schwierig die geschichtliche Erinnerungs-
arbeit bereits auf dieser Ebene ist. Wie lassen sich traumatische
Erfahrungen vergegenwärtigen? Lassen sie sich überhaupt objekti-
vieren?
Bereits das Erinnern ist angesichts entmenschlichender Erfahrun-
gen nicht selbstverständlich. Sigmund Freund hat gezeigt, daß sich
ausgesprochen leidvolle Erfahrungen der Aufnahme ins Symboli-
sche entziehen und nur verschoben wieder in Erscheinung treten. (6)
Die gegenwärtige Forschung reflektiert Phänomene wie traumati-
sche Amnesien, (7) Die Crux beginnt dort, wo sich das individuelle und
kollektive Gedächnis der schmerzlichen Erinnerung widersetzt. So
treten bekannterweise an die Stelle nicht integrierbarer traumati-
scher Erfahrungen Erzählungen, die das Unbegreiffiche in die Rhe-
torik des längst Bekannten überführen.
„Leiden, auf den Begriff gebracht, bleibt stumm und konsequenzlos“,
bemerkte Theodor W. Adorno in der nachgelassenen Ästheti-
schen Theorie im Vertrauen auf eine Kunst, die durch Mimesis ans
Verhärtete und Entfremdete beredt wird. (8)
Mischa Kuballs Videoarbeit, die sich dem Ort des Erinnerns stellt,
ist nicht Ausdruck eines persönlichen Eingedenkens. Vielmehr hat
sich Kuball bewußt für eine Kunst entschieden, die sich der Sicht-
weise des Apparats ü̈berantwortet. Wie Man Ray 1926 während der
Dreharbeiten zu seinem Film Emak Bakia auf die Idee kam, die
Kamera in die Luft zu werfen und die Aufnahmen dem Zufall zu
überantworten, so überläßt auch Mischa Kuball der im Kreis
geschleuderten Kamera die Reflexion der zum Denkmal geworde-
nen Alten Synagoge.
Er wählt nur noch die Standpunkte für seine Aktion, die in Gang
gesetzten Aufnahmen. Inmitten des Innenraums schleudert er die
Videokamera horizontal und vertikal. Vor dem Gebäude stehend
läßt er sie vertikal kreisen.
So ist es, ganz im Sinne der Kinoprogrammatik Diziga Wertows,
die Maschine, die die Welt so zeigt, wie es nur die Maschine ver-
mag. Im Bild der Kamera gerät die gefügte Erinnerungsrekonstruk-
tion in Bewegung.
Kuball montiert die Einstellungen, die Innen- und Außenaufnah-
men. Seine Videobänder, die er als Endlosschleifen immer wieder
aufs neue zeigt, verschränken Aufnahmen des zum Museum gewor-
denen Innenraumes mit solchen, die das städtische Umfeld zeigen,
in dem sich die Alte Synagoge heute befindet. Durch mehrspurige
Straßen von der Innnenstadt abgeschnitten, wird der scheinbar ent-
rückte Ort des geschichtlichen Gedenkens zum Teil der urbanen,
von Verkehr und Kommerz bestimmten Wirklichkeit. So berühren
sich Innen und Außen, zwei unterschiedlich besetzte Räume der
kommunalen Öffentlichkeit; zugleich gerät die zum Monument
gewordene Erinnerungsarbeit buchstäblich in Bewegung.
Kuball kopiert das Videoband und projiziert die beiden Fassungen
zugleich auf die Seitenwände des Ausstellungsraumes. Endlos
wiederholt solange die Ausstellung währt, gibt es für den Betrachter
keinen Anfang und kein Ende; fortwährend ist er den gegenläufig
realisierten Projektionen der rotierenden Innen- und Außenaufnah-
men ausgesetzt.
Die Beamer sind inmitten des Raums platziert, der nicht nur symbo-
lisch, sondern auch faktisch den entleerten Thoraschreinraum
trägt. Während die kreisenden Aufnahmen die architektonisch
gefügte Erinnerungsarbeit spürbar ins Gleiten bringen, gewähren
Stützen optisch Halt.
Hier berührt Mischa Kuballs Arbeit die traumatische Erinnerung auf
eine andere Weise, als sie es Schautafeln und Architektur vermö-
gen. Die rotierenden Bilder bringen die erstarrten Erzählungen von
der leidvollen Geschichte der Juden in der NS-Zeit buchstäblich in
Bewegung, ohne sie in eine neue Narration zu überführen. Die
schmerzliche Geschichte wird so im Ausstellungskontext nicht
verzerrt, sondern der Gewißheit entkleidet, die ein Denkmal zu
verbürgen scheint.
Es geht dabei freilich nicht darum, die eine gegen die andere Mög-
lichkeit des Erinnerns auszuspielen. Vielmehr eröffnet die raumbe-
zogene Videoinstallation Kuballs, die die Komplexität des Ortes mitdenkt,
einen Dialog. Kuball öffnet wortwörtlich die Tür, die den
Ausstellungsraum des Kunstverein Ruhr mit dem Gebäudekomplex
des alten Sakralraums verbindet. Dabei geht es ihm um eine Kom-
munikation zwischen den Räumen, die nur durch die sich auf die
Arbeit einlassenden Betrachter möglich wird.
Die Partizipation des Betrachters kann nicht heißen, die Erzählun-
Gen über die kaum symbolisch einzuholende leidvolle Geschichte
zu wiederholen, Die geschleuderten Bilder versagen den Anwesen
den jede Gewißheit. Die Projektionen werfen sie hin und her, neh-
men ihnen den stabilen Stand und die Sicherheit, die entmenschli-
chende Erfahrung bereits begriffen zu haben. Die gegeneinander
rotierenden Aufnahmen berühren die Haltung zur Erinnerungsar-
beit körperlich.
(1) Christiane Kühl: 2200 Watt für die Erinnerung, in: die tageszeitung, 21.Jg.,
Nr. 6007, 3. Dezember 1999, S. 15
(2) Vgl. Mischa Knball: refraction house. Mit einem Katalogbeitrag von Armin
Zweite, Ausst.-Kat. Synagoge Stommeln, Pulheim 1994
(3) Vgl. Mischa Kuball: Private Light/Public Light. Deutscher Beitrag zur 24.
Biennale São Paulo 1998, hrsg. von Karin Stempel, Ostfildern-Ruit 1998
(4) Edna Brocke, Michael Zimmermann: Gestern Synagoge. Alte Synagoge‘
heute. Geschichte im Spiegel von 75 Jahren Bau-Geschichte, Essen 1988, S. 6
(5) Ebd., S.6
(6) ‘Sigmund Freud: Studien über Hysterie, in: Ders.: Gesammelte Werke.
Erster Band, Frankfurt/M. 1952, S. 82f
(7) Vgl. Rainer Krause: Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre, Stuttgart,
Berlin, Köln 1998
(8) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hrsg. von Gretel Adorno und Rolf
Tiedemann, Frankfurt/M. 1970