Am Anfang war die Wand. Menschen wollten sich schon immer von ihrer Umwelt abgrenzen, und sie wollten sich auch unterscheiden. Diese Wand war als Idee nahe liegend, aber auch ungemein praktisch: man konnte sie verändern. Sie wuchs mit den Bedürfnissen ihrer Bewohner und war gleichzeitig auch schön. Besondere Erwähnung verdient, dass das Wort „Wand“ als eines der ganz wenigen Fachwörter der Architektur ist, welches nicht aus lateinischen, sondern germanischen Wurzeln stammt: „Wand“, „Winden“ und „Weiden“ gehören zur gleichen Sprachwurzel. Mit den ersten Wänden aus geflochtenen Weiden hielt das Ornament Einzug in den Reigen möglicher Gestaltungen. Worauf man sah, wenn man die Wand betrachtete, war eine Mischung aus geordneter Struktur durch das Flechtwerk und freiem, vegetabilem Wuchs. So ergibt diese Ur-Wand immer wieder einen Anreiz, sie und ihre Überraschungen genau in den Blick zu nehmen.
Heute verfügt man über viele Möglichkeiten. Dabei ist keineswegs mehr uneingeschränkt selbstverständlich, dass eine Wand durch und durch natürlich ist und aus organischem Material besteht. Wie eine textile Struktur geflochten, bildete diese Wand aus Weiden eine Art zweiter Haut. Ganz ähnlich, wie man es auch von Kleidung erwartet, lebt und atmet sie mit den Bewohnern.
Inspiration
Das Wände immer eine wichtige Quelle der Inspiration sind, hat kein geringerer als Leonardo da Vinci in seinem Traktat über die Malerei betont. Gerade das Zufällige und Unregelmäßige beflügele die Fantasie, lehrte der Meister. Gealterte und abgenutzte Wände haben seither stets ein besonderes künstlerischer Augenmerk gefunden. Die oftmals überraschenden Spuren ihrer Geschichte waren dabei Anreiz für die Fantasie und die Suche nach den sich darin abzeichnenden historischen Hintergründen. Die technische Herausforderung, den geronnenen Formen und Strukturen des Zufalls mit der eigenen Technik eine weitere Note abzuringen, ist ein zweiter Grund, warum immer wieder sorgfältig wiedergegebene Abrisswände gezeichnet, gemalt oder fotografiert werden. Kein Wunder ist es also, wenn sich die Symbolisten oder die Surrealisten besonders intensiv mit diesen aufgeladenen Wänden beschäftigten. Ein besonderes Beispiel für diese Impulse bietet eine Installation von Dagmar Schmidt. Sie fasst einfühlsam zusammen, was die Faszination solcher Wände ausmacht. Die gewachsene Spur der Geschichte an den verlebten Wänden eines alten Zimmers in einer sächsischen Kleinstadt hat sie fotografisch festgehalten. Ihre weitere künstlerische Bild-Verarbeitung setzt das Ergebnis in kostbare Stickerei um, die wiederum wie eine Rekonstruktion dieses Wandstücks gezeigt wird. Die Transfers sprechen ihre eigene Sprache. Noch immer sind Wände nicht nur der Ort, wo Kunst aufgehängt wird, sondern selbst ein Ausgangspunkt künstlerischer Aufmerksamkeit und deshalb auch künstlerischer Gestaltungen. Zunächst hatte die Künstlerin geplant, diese Fotografien vom Verfallszustand der Wand aus der Barockzeit im computerisierten Webstuhl zu einem Gobelin umzusetzen. Letzten Endes entschied sie sich für das – eher malerische – Verfahren der Stickerei mit der Nähmaschine. Die Installation an Wänden von Kunstorten vollzieht einen Transfer oder Räume, Zeiten und Medien hinweg. Hinter solchen Spuren verbirgt sich Psychologisches und Politisches, nicht zuletzt auch für die Betrachter und Interpreten: was man selbst in diese Spuren hinein liest, sagt ebenso viel aus über den Interpreten wie über die Wand.
Farbe
„I see a red door and I want it painted black“, sangen die Rolling Stones in den 1960er Jahren, und seit jener Zeit sind nicht wenige Räume entsprechend ausgestaltet worden. Vielfältige Überlegungen führten zu Räumen, für die eine einheitliche Farbgebung die Atmosphäre prägt. In diesen Farbräumen kreuzt sich der generelle Wunsch nach der angenehmen Farbgebung von Räumen mit der Absicht von Künstlern, in reiner, geläuterter Weise das innere Wesen von Farbe zum Klingen zu bringen. Yves Klein stellte 1959 in einer rein weißen Galerie „Das Leere“ aus und provozierte mit dieser „Zone der malerischen Sensibilität“ eine heftige Diskussion herauf. Nicht weniger radikal, aber unter privateren Vorzeichen schuf 1968 in München Rupprecht Geiger mit seinen intensiven Pigmenten den „farbraum rot‘. Ihre Äquivalente finden solche Mal-Installationen in der Forderung nach dem „White Cube“, dem möglichst neutralen Ausstellungsraum, in dessen weißer Zelle möglichst nichts von den ausgestellten Arbeiten ablenkt. Natürlich klingen solche konsequenten Positionen der 1960er Jahre heute in vielen alltäglichen Raumgestaltungen wieder. Zwischen optischen Leitsystemen, farblich abgestimmten Räumen und persönlich geprägter Wohnraumgestaltung hat sich ein breites Anwendungsfeld farbiger Wände entwickelt. Jede(r) kann das heute praktisch nachvollziehen – Wände und genügend Farbe vorausgesetzt.
Mischa Kuball hat beides verbunden und Licht eingesetzt, um Räume farbig zu gestalten. Der Titel „Darkroom“ und das verwendete rote Licht spielt mit den Erfordernissen des Fotolabors und der „Black box“, der für selbstleuchtende Kunst optimalen Bedingung. Der französische Künstler Christophe Cuzin machte hier einen weiteren Schritt. „Eine leichte Verschiebung“ vollzieht die Struktur der Wand in kräftiger Farbgebung nach, verschiebt sie jedoch leicht. Die so entstandene neue Wandschicht bringt das eigentümlich verbaute Ambiente eines mittelalterlichen Klosters, das jetzt Kunstmuseum ist, geradezu zum Tanzen – und leitet die Besucher so als starkfarbiger Auftakt in das obere Geschoss mit seinen Ausstellungen.
Bauhaus
Besondere Aufmerksamkeit widmete solchen grundsätzlichen Fragen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Bauhaus – immerhin wollte diese Kunstschule Alltag, Technik und Kunst in einen stimmigen Zusammenhang bringen. Wie verhalten sich beispielsweise die Dimensionen des Raums zueinander? Wie hoch muss der materielle Aufwand sein, um eine gültige, funktionstüchtige und in sich ehrliche Form zu haben? Praktische Fragen der Innenarchitektur schwingen genauso mit: wo ist der ästhetisch und organisatorisch beste Ort für Bilder, Fenster, Lampen, Heizung und Möbel? Welche Rolle spielen Licht, Farbe und Schatten im Zusammenhang mit dem Raum? Ein Bild an der Wand – oder ist ein gut gestalteter Raum in sich schon Bild genug? In den Meisterhäusern des Bauhauses in Dessau, die man liebevoll rekonstruiert hat, zeigt sich, dass die farbliche Gestaltung von Wänden ein wesentlicher Punkt war. Wassily Kandinsky beispielsweise gestaltete seine Leseecke sogar mit einem Goldgrund. Weitere Überlegungen richteten sich auf die Struktur der Wand. In den späten 1920er Jahren setzten Entwürfe für Tapeten entsprechende Ideen um: als genau jenes abstrakte Ornament, nach dem die Künstler suchten, um ihren Vorstellungen einer noblen Einfachheit Form zu geben. Am Bauhaus war man überzeugt davon: das gestalterische Know How dieser richtungweisenden Kunstschule könnte und sollte allgemein akzeptiert und verwendet werden. Mischa Kuballs Arbeit „Erfurt 52“ bindet hier weitläufige Strömungen aus dem Zusammenhang von Wand, Bauhaus und Bautätigkeit zusammen. Das klare und verbreitete Ornament der Rauhfaser erscheint auf dem Tapeziertisch. An der Wand des Bauhauses installiert, nimmt es genau solche ästhetischen Überlegungen auf, wie sie hier ihren Ausgangspunkt hatten. Die Installation mit den Tapeziertischen gut 60 Jahre später bezieht jedoch eine deutlich skeptischere Position. Sie spielt darüber hinaus auch auf weitere Fragen an, die am Bauhaus heiß diskutiert wurden und im Laufe der Zeit seither immer wieder offen bleiben musste: die plastische Struktur der Wand sowie ihre Offenheit für weitere gestalterische Prozesse. Wassily Kandinsky hatte sie 1937 in seinem Essay „Die nackte Wand“ beschworen: „Auch ich liebe die kahle Wand, weil sie einer der Klänge der neuen kommenden Romantik ist ... .“
Fassade, Ornament
1908 äußerte sich der Wiener Architekt und Essayist Adolf Loos in seinem bahnbrechenden Aufsatz über den Zusammenhang zwischen „Ornament und Verbrechen‘ Während es – so sein Beispiel – völlig normal sei, dass sich in Neuguinea Menschen tätowieren ließen, sei das im Europa um die Jahrhundertwende eine Domäne der Verbrecher. Dass er diesen Vergleich polemisch auf die zu seinerzeit stark ornamentierte Architektur übertrug, hat eine ähnlich heftige Diskussion entfacht wie seine Gebäude, die ohne eben jenen umstrittenen Schmuck an der Fassade auskamen. Diese Diskussion um den Sinn von Ornamenten ist heute keineswegs vom Tisch, zumal gerade in unseren Tagen Tätowierungen häufig vorkommen. Obwohl in späteren Lebensphasen schwer entfernbar, sind sie als Ausdruck eines intensiven, aktuellen Lebensgefühls durchaus salonfähig geworden. Gerade Künstler nehmen heute diese Analogie von Wand und Haut als ein relevantes Thema deutlich wahr. So pflanzte der koreanische Künstler In Ho Baik 2005 einer Wand Haare ein; ein subtiler Prozess, der – wie eine kosmetische Operation auf einer weißen Wand ausgeführt – erst auf den vierten Blick wahrnehmbar war.
Guiseppe Penone bedeckte 2007 auf der Biennale in Venedig die Wände einer Ausstellung mit großformatigen Lederstücken. Dabei prägte er die Lederstücke mit der rissigen Struktur von Baumrinde. Das reflektierte nicht nur die ornamentale Funktion nobler Ledertapeten vergangener Epochen, sondern auch die Entsprechung von Wand und Haut als existentiellem Schutz. Die Künstlergruppe Inges Idee brachte in diese Diskussion einen großformatigen ironischen Kommentar ein. An der Fassade eines Düsseldorfer Parkhauses, die von eckigen Betonornamenten gegliedert ist, brachten sie überdimensionalen Schmuck an. Neben dieser Maßnahme sind im Zusammenhang zwischen „Fassade“ und „Face“ – zweier im Stamm eng verwandter Wörter – viele weitere Beziehungen denkbar. Die Komik bezieht diese ungewöhnliche Kunst am Bau jedoch aus der Tatsache, dass sie ungewohnt offen mit dem Aufhübschen städtischer Wände umgeht. Der Vorhangfassade, einer eher kosmetischen Lösung, hänge sie selbst etwas vor. Piercing und Modeschmuck als zeitabhängige und oft recht vorübergehende Dekorationssysteme stellen hier die Grundlagen einer gültigen und im Ergebnis offenen Wandgestaltung in Frage.
Struktur und Ordnung
Welches Ornament passt gut zu einer Wand? Seit sich Menschen mit ornamentierten Formen beschäftigen, verläuft zwischen strengerer Ordnung und Zufall ein tiefer Graben. Geordneter Rapport oder ungeordnete Struktur, vorgeprägtes oder offenes Ornament: Fast könnte man von einem grundsätzlichen Richtungsstreit sprechen. Es gibt genug Möglichkeiten, über die Entsprechung von vorherrschenden Ornamenten und anderen Zeitfaktoren nachzudenken. Kleinteilige Musterungen, wie sie die 1929 entworfenen Bauhaustapeten vorsahen, waren im Detail klar lesbar und nach geometrischen Grundsätzen geordnet; erst aus einiger Entfernung ergab sich durch die Mischung ihrer engen Struktur ein flächiger Farbeindruck. Während die Bauhaustapete ein durch neue, industrielle Techniken geprägtes Zeitalter in ästhetische Form brachte, verleihen die unruhigen und abstrakten Muster auf Möbeln und Stoffen der 1950er Jahre dem Atom- und Kunststoffzeitalter einen stimmigen Ausdruck.
Der tschechische Künstler Jirí Kolár hat immer wieder Gegenstände mit eng bedrucktem Papier eingekleidet. Was so entstand, war eine gewissermaßen alles Überziehende, hautartige Oberfläche aus kleinteiligem Buchstabenornament. Was für einen Apfel wie dessen Schale wirkt, nimmt als Bild die Wechselwirkung mit der Wand auf. Aus einiger Entfernung zu Grautönen verschmelzend, entpuppt sich diese Struktur als eine potentiell unendliche Collage aus Fetzen bedruckten Papiers. Mit einer Überfülle aus Informationen versehen, zeigt es sich als Verbrauchsmaterial. Vielleicht beschreibt diese gleichförmig inszenierte Informationsflut eine Nähe zwischen einem Ornament und der Zeit, gewissermaßen als schlüssige Form für das Informationszeitalter. Und neben dem Management dieser Datenfülle hat man begonnen, über die Wiederverwendung eines Materials wie Papier stärker nachzudenken. Aber auch die Gegenbewegung hat längst begonnen: die sprichwörtliche fünfte Wand ist der Monitor. Der Häufigkeit und Intensität entsprechend, mit der darauf geblickt wird, ist die Diskussion um sie schon recht weit gediehen. Der Desktop als die virtualisierte und zur Wand hochgeklappte Schreibtischoberfläche ist Unterscheidungsmerkmal und optischer Wohlfühlort in einem. Kein Wunder also, wenn neben Familienbildern und monochromen Farbgebungen die alte Tierhaut aktuell wieder zu einem beliebten Hintergrund für das tägliche Arbeitsgeschehen wird.
Erfurt 52
Mischa Kuballs Installation „Erfurt 52“ verwendet und thematisiert Rauhfaser. Nicht zufällig am Fenster des berühmten Bauhaus-Treppenaufgangs, setzt sie auf eine fragile Form aus Tisch, Rauhfaser und Farbe. Rauhfaser ist als Prinzip offen: eine Oberfläche, deren Regelmäßige Unregelmäßigkeit der Zufall bestimmt und deren grobe bis feinere Oberftächenstrukturen durch ihr Relief eine deutliche Belebung erreicht. Vieles ist möglich: Ruhe oder Unruhe, Relief oder Glattheit, Farben zwischen Hochweiß, Creme oder starken Tönen. Und sie ist offen für die Möglichkeit unterschiedlicher Räume und dafür, sie immer wieder anders zu sehen und verwenden.
„Erfurt 52“ lotet diese Offenheit künstlerisch aus und regt gleichzeitig weiter gehende Gedanken an. Als provisorisch vor die Wand oder das Fenster geblendete zweite Wand bildet die Arbeit eine Skizze für Raum schlechthin. Damit weist Kuballs Installation in eine besondere Richtung. Gerade experimentell Denkende und nicht zuletzt die Selber-Macher mit ihren oft radikal einfachen Lösungen für Raumfragen bilden ein gewichtiges Potential. Sie suchen nach offenen Prozessen, in denen sie verschiedene Faktoren selbst bestimmen und weiter entwickeln können. Für die Fragen des alltäglichen Lebens ebenso wie für die Ideen der zeitgenössischen Kunst ist diese Offenheit eine gute Vorgabe.
In: Rauhfaser // Kunst. Hg.: Erfurt & Sohn KG, Wuppertal 2008.
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