Fenêtre, toi, ô mesure d‘attente,
tant de fois remplie,
quand une vie se verse et s‘impatiente
vers une autre vie.
Toi qui sépares et qui attires,
changeante comme la mer,—
glace, soudain, où notre figure se mire
mêlée à ce qu‘on voit à travers;
echantillon d‘une liberté compromise
par la présence du sort;
prise par laquelle parmi nous s‘égalise
le grand trop du dehors.[1]
Rainer Maria Rilke
„Ein Fenster“, erzählte mir Mischa Kuball im vergangenen Jahr, sollte
ein Projekt heißen, das er für die Johanneskirche in Düsseldorf plante.
Eine evangelische Kirche, die der rasanten Entwicklung Düsseldorfs im
19. Jahrhundert Rechnung tragend, bei ihrer Weihe 1881 als einer der
stattlichsten Kirchenneubauten Deutschlands galt. Im Zentrum der
Stadt in neugotischem Stil errichtet, im 2. Weltkrieg schwer beschädigt,
wurde sie in den 50er Jahren im zeitgemäß vereinfachten alten Stil
wiederaufgebaut.
Ehrlich gesagt, war mir überhaupt nicht klar, was Mischa Kuball an
Kirchenfenstern interessieren könnte. Natürlich, er hat immer wieder
Projekte entwickelt, bei denen Fenster eine wichtige Rolle spielen, da
runter 1990 die „Megazeichen“ am Mannesmann-Hochhaus in Düssel-
dorf, die dadurch zustande kamen, dass die Büroangestellten in vorher
festgelegten Räumen nachts das Licht brennen ließen; „refraction house“
1994 in der ehemaligen Stommelner Synagoge, die durch extrem helle
Ausleuchtung des Innenraums wie eine Fackel im dörflichen Umfeld als
Störfaktor brannte; „Projektion – Reflektion“ 1995 in der Kunst-Station
St. Peter Köln arbeitete mit Baustrahlern, die — von außen auf die Fenster
Gerichtet – den Innenraum inszenierten; und schließlich „worldrorschach –
rorschachworld“, eine Arbeit für den „Fensterraum“ des Diözesan-
museums in Köln zum Jahreswechsel 1995/96, die den von immer neuen
Determinanten geprägten Blick auf die Welt zum Gegenstand der
Wahrnehmung machte. Aber angesichts der neugotischen Johannes-
kirche war meine Vorstellung sofort in eine ganz andere Richtung
gelenkt. Ich dachte an gotische Glasmalereien, an deren Renaissance
im 19. Jahrhundert,an die Neugestaltung romanischer Kirchen in Köln
mit ihren umfangreichen Bildprogrammen und nicht zuletzt an die im-
mer wieder neu zu diskutierende Frage, nach welchen Kriterien Kirchen-
fenster im 21. Jahrhundert sinnvollerweise gestaltet werden könnten.
Mit derart verengtem Blickwinkel begann ich, Fenster genauer zu be-
trachten und auf ihre Funktionen und Möglichkeiten im Bau hin zu be-
fragen. Da mein Schreibtisch entgegen jeder Vernunft vor einem großen
Fenster steht, das die Nachmittagssonne in voller Stärke einfallen und
den Blick ungehindert nach draußen schweifen lässt, habe ich ein gutes
Studienobjekt. Besonders bei der Suche nach einem Textanfang ist dieses
Fenster unglaublich wichtig, – erlaubt es doch die ach so wesentliche
Beobachtung aufblühender Forsythien im Garten, erster tanzender
Mückenschwärme oder dramatischer Wolkenbilder. Ganz zu schweigen
davon, dass sich — verlockt durch die ersten warmen Sonnenstrahlen –
das Fenster öffnen lässt, und so nicht nur frische würzige Luft ins Zimmer
kommt, sondern auch das Gurren der Tauben zu hören ist und vielleicht
sogar der Plausch der Nachbarn durch ganz wesentliche Bemerkungen
zum richtigen Rosendünger ergänzt werden kann. Wie wunderbar be-
reichernd—oder sollte ich sagen „ablenkend“—doch ein solches Fenster
mit Klarglas sein kann: wie ein großes bewegtes und veränderliches
Bild, wie der Film auf einer Kinoleinwand.
Szenenwechsel zu einem spätgotischen Kirchenraum. Die farbigen Fen-
ster des späten Mittelalters werden zur Zeit restauriert. An ihre Stelle
tritt übergangsweise die leicht milchige, aber trotzdem durchsichtige,
zukünftige Schutzverglasung. Man sieht ganz deutlich, ob der Himmel
blau oder grau ist, erkennt die vom Wind bewegte Baumkrone, und das
auf der anderen Straßenseite stehende Wohnhaus, in dem gerade je
mand Licht macht. Die Erfahrung ist befremdend, und ich frage mich,
warum. – Die Klarverglasung lässt den Raum „modern“ erscheinen,
rückt ihn vom Erscheinungsbild her in die Nähe sachlich funktionaler
Räume. Gut belichtete Fertigungshallen und Ausstellungsräume haben
einen ähnlichen Charakter. – Sollten farbige Fenster tatsächlich einen
so enormen, prägenden Einfluss auf den Raumcharakter haben, oder
ist vielleicht ein gut Teil der skizzierten Raumerfahrung auf die Vor
Urteile der betrachtenden Kunsthistorikerin zurückzuführen?
Ihr, der Kunsthistorikerin, kommt angesichts des lichten gotischen Kirchen-
raumes in den Sinn, dass Suger, im 12.Jahrhundert Abt der fränkischen
Königsabtei Saint Denis bei Paris, mit seinen Schriften wesentlichen An-
lass gegeben hat, den in seiner Amtszeit gebauten und geweihten lichtdurch-
fluteten Chor nicht nur als Inbegriff gotischer Architektur zu sehen, sondern
auch als Umsetzung neuplatonischer Lichtmetaphysik. Erwin Panofsky hat
die Vorstellung formuliert, dass in dieser Lichtarchitektur das göttliche Licht
durch die farbigen Fenster materiell aufscheine und so dem menschlichen
Intellekt den Aufstieg zur Erkenntnis Gottes ermögliche.[2] Otto von Simson
weist auf die Verwandtschaft zwischen dem „Diaphanen“ – den durchleuchteten
Wänden — als bestimmendem Element des gotischen Kirchenbaus und der
Metaphysik der Zeit hin und betont, dass für das zwölfte und dreizehnte Jahr-
hundert „das Licht Quelle und eigentliches Wesen aller sichtbaren Schönheit“
war. Licht und leuchtende Gegenstände, so verstand er Sugers Schriften, gewähren
Einblick in die Vollkommenheit des Kosmos und lassen etwas von der Macht des
Schöpfers ahnen.[3]
Der Kunsthistorikerin ist auch bewusst, dass in Fortführung antiken Gedanken-
gutes, Gott in metaphorischer Rede als die „Sonne“ bezeichnet wurde.[4] Damit
bieten sich natürlich vielfältige Ansatzpunkte zum Verständnis gotischer Kirchen
als Orte der sinnenfällig gemachten Gottesgegenwart. Diese verkürzte Mittel-
alter-Rezeption kritisch zu hinterfragen, ist hier nicht der Ort. Vielmehr
soll gerade in der Vereinfachung deutlich werden, was bis in die
Gegenwart hinein das Verständnis gotischer Räume weithin prägt und
so zur Irritation angesichts einer ihrer Farbverglasung beraubten
gotischen Architektur führen kann.
In der Beschäftigung mit der Glasmalerei der Gotik wird aber auch deut-
lich, dass Fenster hier keineswegs im modernen Sinn als Wanddurch-
brüche und damit als Negation der Wand zu verstehen sind, sondern als
deren transparente oder transluzide Fortsetzung. Fenster, oder besser
gesagt, die Verglasung ist integraler Bestandteil der Architektur. Und
nicht nur das, sie nimmt auch in der Wertigkeit der Architekturteile
einen hohen Rang ein. Dies wird deutlich nachvollziehbar in der Schrift
„De Diversis Artibus“—,,Über verschiedene Künste“, die Theophilus, nach
gewiesen als Mönch Roger aus Helmarshausen, im 12. Jahrhundert ver-
fasst hat. Auf der Schwelle zwischen Romanik und Gotik betont Theo-
philus die Überlegenheit eines das Sonnenlicht nicht ausschließenden
farbigen Schmucks im Gotteshaus gegenüber einer undurchsichtigen
Malerei mit Pigmenten. Dieses Ziel zu erreichen, sei nur durch den Ge-
brauch des Glases möglich.[5] Wenn Bruno Reudenbach in seiner Analyse
der drei Prologe des Theophilus festhält, dass „erst durch die Leistungen
des der göttlichen Geistesgaben teilhaftigen Künstlers [...] die göttlichen
Geheimnisse enthüllt [...]“ werden, so manifestiert er damit den hohen
Stellenwert, welcher der Kunst im Kirchenraum aus der Sicht des geist-
lichen Autors zukam.[6] Die ganz besondere Wertschätzung der Glas-
malerei lässt sich aus Reudenbachs überzeugendem Vorschlag ableiten,
die Kapiteleinteilung des Buches „Über verschiedene Künste“ in Farbe,
Glas und Metall nicht als bloße Gliederung nach Werkstoffen zu ver-
stehen, sondern im Sinn e einer enzyklopädischen Kosmographie als
Fortschreiten vom Oben zum Unten, vom Schöpfergott zur Schöpfung,
vom Himmel zur Erde, vom Immateriellen zum Materiellen.[7]
Wohin führen diese kunsthistorischen Reminiszenzen? – Ausgangspunkt
war die Frage nach dem prägenden Charakter farbiger Fenster im (go-
tischen) Kirchenraum. Entsteht die Prägung aufgrund kunsthistorischer
Rezeption im Kopf, liegt die prägende Kraft in der sinnlichen Erfahrung,
oder lässt sich beides vielleicht auch gar nicht voneinander trennen?
Für all jene, die vor dem Hintergrund der kunstgeschichtlichen Rezeption
mittelalterlicher Kirchenbauten einschließlich der zur Erhellung heran
gezogenen Schriftquellen mit all ihren metaphorischen und metaphy-
sischen Bedeutungsebenen einen (neu-) gotischen Kirchenraum ohne
Glasmalerei betrachten, wird dieser ehemals mit Bedeutung aufgeladene
Raum schrecklich nüchtern erscheinen; denn ohne Glasmalereien fehlen
nicht nur die Bildprogramme biblischen und heilsgeschichtlichen Inhalts,
die den Bau zum Abbild des Himmlischen Jerusalem machen, sondern
—wenn wir im Sinne des Theophilus denken —er verliert auch mit dem
ihn ursprünglich erfüllenden farbigen Licht seine Seele. Aber was wäre,
wenn man die Situation der Klarverglasung in unserem gotischen Kir-
chenbau versuchsweise als gegeben annähme? — Über der begründeten
Wertschätzung für die Vorstellungen mittelalterlicher Bauherren, Bau-
meister und Theologen, dem Respekt vor historischem Bestand und ge-
rade auch im Bewusstsein um die romantisch-sentimentale Sehnsucht
nach idealen, in ungebrochener Einheitlichkeit formulierten mittelalter-
lichen Sakralräumen wollen wir nicht vergessen, dass historische Bauten
im Lauf der Jahrhunderte immer wieder rigorosen Veränderungen unter
zogen wurden. So hat man beispielsweise in der Mitte des 18. Jahrhunderts
die Farbverglasung von Notre Dame in Paris auf Anordnung des
Domkapitels durch Weißglas ersetzt, was einer Neu-Interpretation des
Baus gleichkam, insbesondere, wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie
die helltonigen Fensterverschlüsse dieser Zeit als Lichtträger in die illu-
sionistische Architektur einbezogen waren. — Doch zurück zu unserem
gedanklichen Experiment. Die Klarverglasung verändert hier nicht nur
die Raumerfahrung, bedeutet nicht allein eine Umwertung des Raumes,
sie verändert auch den Charakter des Fensters und sogar sein Wesen. Es
bleibt nicht länger integraler Bestandteil der Wand. Das Fenster wird zu
dem, was es auch in profanen Bauten ist: Öffnung in der Wand, durch
die etwas von drinnen nach draußen und von draußen nach drinnen
gelangen kann.
Dieses seltsam Unbestimmte und Transitorische des Fensters mag dazu
beigetragen haben, dass es im Volksglauben mit allerlei sonderbaren
Vorstellungen und Eigenschaften verbunden war.[8] Jahrhunderte hin
durch galt es als Flugloch der Seelen. So war die Sitte weit verbreitet,
unmittelbar nach einem Todesfall das Fenster zu öffnen, damit die Seele
entfliehen konnte. Und wenn ein Mensch schwer starb, so öffnete man
es bereits vor seinem Tod, damit sich die Seele leichter vom Körper löse.
Auch das Fieber ließ man zum Fenster hinausfliegen, und in umgekehrter
Richtung ließ man in der Christnacht durch ein geöffnetes Fenster fri-
sche Luft ins Haus, damit es vor ansteckender Krankheit bewahrt bleibe.
Aus der Sage wissen wir, wie gefährlich der Blick aus dem Fenster unter
Umständen sein konnte, dann nämlich, wenn der „Heidmann“[9] oder
„Berchta“[10] umgingen. Von ihnen angeschaut zu werden oder sie zu
erblicken, brachte zumindest Krankheit und konnte gar zum Tode führen.
Wöchnerinnen wurden deshalb besonders geschützt, indem man ihnen
die Fenster verhing. Und außerdem gab es ja noch die Möglichkeit, zu
bestimmten Zeiten geschnittene und nach festen Regeln zusammen
gestellte Kräuter- oder Blumensträuße ans Fenster zu hängen, um auf
diese Weise Unheil abzuwenden. Wenn auch solcher Volksglaube und
das damit verbundene Brauchtum weitgehend verloren sind, so wird
doch in der volkskundlichen Überlieferung deutlich, dass Fenster im
Wesentlichen als Zone des Übergangs und der Ambivalenz erfahren und
entsprechende Rituale entwickelt und gepflegt wurden, die der Un-
gewissheit und der Angst vor dem von jenseits eindringenden Bedroh-
lichen etwas entgegenzusetzen oder aber dem Heilenden den Zugang
ermöglichen sollten.
Das Fenster erscheint als Grenze und scheidet als solche das wandum-
schlossene Innen vom unumgrenzten Außen. Als Zone des Übergangs
ermöglicht es Berührung und Austausch. Im Sinne einer Dialektik von
Ja oder Nein, erweitert in die existenzielle Vorstellung von Sein oder
Nichtsein, scheidet es das Drinnen vom Draußen, aber es verbindet auch
das Draußen mit dem Drinnen und hebt so eben jene Dialektik des Draußen
– Drinnen wieder auf.[11]
Wohin führen diese Überlegungen im Hinblick auf Mischa Kuballs
Projekt „Ein Fenster“, zu dessen Realisierung er vor die Innenseite des
Ostfensters der Johanneskirche einen 9,50 Meter hohen, 4,50 m breiten
Aluminiumrahmen aus 32 Segmenten mit farbigen Plexiglaselementen
gesetzt hat, die während der einjährigen Dauer des Projektes aufgrund
von Besuchervorschlägen mit wechselnden Texten, Symbolen und Bildern
bedruckt und ausgetauscht wurden? – Zunächst werden Erwartungen,
die sich aus einem rein kunsthistorisch begründeten Verständnis von
Ortsspezifik ableiten, enttäuscht. An Formalien wie gedämpftes Tages
licht geknüpfte Vorstellungen von Aura und Sakralität werden nicht
eingelöst. Die Programmatik der „Bilderbibel“ fehlt. Stattdessen wird
das Fenster selbst thematisiert, sowohl formal als inhaltlich. Befreit von
der Last, ein ganzheitliches Welt- und Heilsbild formulieren zu müssen,
wird das Fenster phänomenologisch zurückgeführt auf sein Wesent-
liches: Raum des Transitorischen zu sein und Austausch von außen nach
innen und von innen nach außen zu ermöglichen. So ist es selbstverständ-
licher Ort potenzieller Interaktion, und durch die Einflussnahme der Besucher
ist es Spiegel dessen, was die Menschen heute bewegt. Es wird zum Ort
lebendiger Interaktion, zur Schnittstelle unterschiedlicher Handlungs-,
Orientierungs- und Kommunikationsräume. Es fordert die permanente
Reflexion dieser Räume; denn es ermöglicht das Sehen von Welt:
gebrochen, überlagert und widergespiegelt wie im Gedicht des Rainer
Maria Rilke.
[1] Rainer Maria Rilke, Werke in drei Bänden, Frankfurt 1966, Bd.2, S. 342.
[2] 2 Erwin Panotsky, Abbot Suger on the Abbey Church of St.-Denis and its Art Treasures, Princeton 1946, second edition by Gerda
Panofsky-Soergel, Princeton 1979, S. 18-26.
[3] Otto von Simson, Die gotische Kathedrale, Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung. Darmstadt 1968,1972. S. 77ff.
[4] Kommentar des Thomas von Aquin (1225-1274) zu Pseudo-Dionysius: „De divinis nominibus‘, Prooem. 1(c).
[5] H. Westermann-Angerhausen, Glasmalerei und Himmelslicht – Metapher, Farbe, Stoff, in: Himmelslicht. Europäische Glasmalerei im Jahrhundert des Kölner Dombaus (1248-1349). Ausst, Kat, Schnütgen-Museum der Stadt Köln, Köln 1998, S.101f.
[6] Bruno Reudenbach, Ornatus materialis domus Dei“. Die theologische Legitimation handwerklicher Künste bei Theophilus, in: Europäische Skulptur im 12. his 13. jahrhundert, hrsg. von Herbert Beck und Kerstin Hengevoss-Dürrkopp, Frankfurt 1994,S. 12.
[7] ebda., S. 6.
[8] Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli, Berlin/Leipzig 1929/30, Bd. 2. unter „Fenster“.
[9] Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, 4. Ausg., besorgt von E. H. Meyer, Berlin 1875-78, 3 Bde., Bd. 2, S. 995.
[10] Vgl. auch Ingeborg Weber Kellermann, Das Weihnachtsfest, Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit, Luzern/ Frankfurt 1978, S. 19.
[11] Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. Frankfurt 1997, S. 211- 228 passim.